Die Morgendämmerung brach gerade erst herein und der Himmel begann sich zu erhellen. Meine Mutter weckte mich hastig auf und sagte: „Anuradha! Aufwachen! Du hast eine Menge zu tun, mach dich fertig.“ Während mein Körper noch weiter schlafen wollte, rief meine Innere Stimme: „Heute ist Schule! Wach auf!“
Zwei Stunden später hatte ich mit meiner Mutter die Hausarbeiten erledigt: Geschirr gespült, Wäsche gewaschen, die Büffel gemolken und vieles mehr. Als ich meine Schuluniform anziehen wollte, befahl meine Mutter barsch: „Zieh das neue Kleid an, das wir für dich gekauft haben!“ Ich protestierte: „Aber ich werde Ärger von dem Lehrer bekommen, wenn ich dieses Kleid trage.“ In dem Moment war mir noch nicht klar, dass ich das Kleid für meine Hochzeit anziehen sollte.
So erinnert sich Anuradha an den Tag, der sie ihren Kindheitsträumen entriss und ihr Leben als Schulmädchen jäh beendete. Sie war zu diesem Zeitpunkt erst 13 Jahre alt und ging in die achte Klasse. In den darauffolgenden Tagen wurde sie als Kinderbraut dem von der Familie ausgesuchten Mann übergeben, der alle Rechte über ihr Leben und ihren Körper erhielt.
Als ich noch ein Kind war, habe ich immer studieren und Lehrerin werden wollen. Die Ehe und all ihre Facetten habe ich erst mit 19 Jahren verstanden.
Innerhalb des ersten Ehejahrs gebar Anuradha ihr erstes Kind. Ihr Ehemann Krishna unterstützte aber ihren Wunsch weiter zu lernen und erlaubte ihr, den Schulabschluss nachzuholen. Anuradha wurde in der 10. Klasse aber wieder schwanger und konnte die Abschlussprüfung nicht machen, weil ihre Familie der Ansicht war, dass dieser Stress in der Schwangerschaft nicht gut für das Kind sei. In derselben Zeit hörte Anuradha zum ersten Mal von World Vision, da in ihrem Dorf ein Programm zur Gesundheitsvorsorge für schwangere Frauen, für Mütter mit Neugeborenen und für Kleinkinder durchgeführt wurde. Für Anuradha kam das Programm zur richtigen Zeit, da ihr zweites Kind schwach und unterernährt auf die Welt kam. Sie lernte unter anderem sich und ihre Kinder gut zu pflegen und gesund zu ernähren. „Seit dieser Erfahrung habe ich an allen Programmen, die von World Vision in meiner Gemeinschaft durchgeführt wurden, teilgenommen, da ich mich durch das erlangte Wissen gestärkt gefühlt habe“, erzählt sie.
In einem Kurs über Kinderrechte erfuhr Anuradha, dass Bildung eines ihrer Grundrechte ist. World Vision-Mitarbeiterin Sunil ermutigte die interessierte Teenagerin, ihre versäumten Prüfungen der zehnten Klasse nachzuholen. Da der Wunsch zu studieren groß war, fragte Anuradha sofort ihren Mann Krishna um Erlaubnis. „Als Sunil zu uns kam und fragte, ob Anuradha wieder zur Schule gehen und ihren Abschluss machen kann, fühlte ich, dass es ungerecht war, sie zu bitten, die Schule abzubrechen. Also habe ich zugestimmt“, erzählt Krishna.
Anuradhas Hoffnung kehrte zurück. Seither hat sie nichts mehr davon abgehalten ihre Träume zu verfolgen. Sie begann sich auch ehrenamtlich für die Projekte von World Vision zu engagieren und erwies sich als begabte Rednerin. Sie ging von Tür zu Tür in ihrem Dorf, um Eltern zu sensibilisieren und dafür zu sorgen, dass alle Kinder die Schule besuchen. Auch in den benachbarten Dörfern wurde sie aktiv und war bald allen bekannt. „Früher war ich nur Krishnas Frau, aber jetzt nennen mich alle hier Anuradha“, sagt sie mit Stolz.
Anuradha erkannte, dass durch die Kinderehen die Träume vieler Mädchen in ihrem Dorf begraben und viele junge Frauen zum Schweigen gebracht worden waren, genau wie bei ihr in der Teenager-Zeit.
Im Jahr 2016 trat Anuradha einer Kinderschutz-Gruppe bei, die in ihrem Dorf durch World Vision ins Leben gerufen wurde. Die Mitglieder wurden in Fragen des Kinderschutzes geschult und auf verschiedene Anlaufstellen für fachliche Unterstützung, wie z.B. die Kinder-Hotline 1098 aufmerksam gemacht.
Da die meisten Mädchen aus dem Dorf eine gute Beziehung zu Anuradha hatten, erfuhr sie bald von einer 14-Jährigen, die verheiratet werden sollte. Anuradha informierte die Kinderschutzgruppe, und zusammen meldeten sie den Fall über die Hotline. Deren Beraterinnen und Berater besuchten das Dorf, berieten die Familie des Mädchens und konnten die Kinderehe stoppen.
„Im Alter von 13 Jahren weiß ein junges Mädchen nicht einmal, wie man für sich selbst sorgt. Wenn Mädchen und Jungen in so jungen Jahren verheiratet werden, können sie erst recht nicht ihre neue Familie finanziell unterstützen, da sie über keine Ausbildung verfügen, um einen entsprechenden Arbeitsplatz zu erhalten. Sie haben auch nicht die nötige Reife, Verantwortung als Eltern in diesem Alter zu übernehmen. Ich kenne die Schwierigkeiten und ich will nicht, dass noch mehr Mädchen sie ertragen müssen“, begründet Anuradha ihre Motivation.
Heute ist Anuradha 23 Jahre alt und Mutter von drei Kindern. Sie hat in ihrem Dorf erfolgreich fünf Kinderehen gestoppt und über 20 Familien beraten. Zusätzlich zu ihrem lokalen Engagement arbeitet sie auch bei einem regionalem Nachrichtensender als Moderatorin und setzt sich öffentlich für die Rechte von Kindern und Frauen ein. Sie hat sich außerdem an einer Hochschule eingeschrieben und strebt nun einen Bachelor-Abschluss in Lehramt an.
Spielend zu unterrichten übt sie gerade schon mal mit Vorschulkindern in einem von World Vision betriebenen Bildungszentrum. Hier kommt sie zu dem Fazit: „Mein Leben hat sich verändert! Seitdem ich meine Rechte kenne, habe ich nichts unversucht gelassen. Früher war ich sehr wütend über meine Verheiratung, aber jetzt habe ich das Bedauern hinter mir gelassen und bin entschlossen, das Leben anderer Mädchen in meiner Gemeinde zu schützen. Ich bin stolz darauf, wenn Mädchen zu mir kommen und mir dafür danken.“ Eines der Mädchen, deren Verheiratung Anuradha verhindern konnte, hat vor kurzem die Schulausbildung abgeschlossen und strebt nun ebenfalls einen Bachelor-Abschluss an.
Eine Frühverheiratung ist ein Verstoß gegen die Rechte der Kinder und beeinträchtigt ihr Leben und ihre zukünftigen Möglichkeiten. Eine Ehe einzugehen ist eine der wichtigsten Entscheidungen, die maßgeblich das Leben prägen wird. Die Frühverheiratung beraubt die Kinder frei und ohne Zwang und Angst zu entscheiden, wen und wann sie heiraten möchten.