11.08.2023

Anticipatory Action

Vorhersagebasiertes Handeln in der Katastrophenvorsorge

Autor: IBrecheis

Jedes Jahr sind mehrere Hundert Millionen Menschen durch Naturkatastrophen bedroht. Über die Hälfte dieser Naturkatastrophen sind bis zu einem gewissen Grad vorhersehbar. Dürren kündigen sich durch das Ausbleiben von Regenfällen an, Überschwemmungen durch starken Regen und den Anstieg des Grundwasserspiegels. World Vision setzt auf den innovativen „Anticipatory Action“-Ansatz (auch Forecast-Based Action Ansatz genannt zu Deutsch: Vorausschauendes Handeln) in der Humanitären Hilfe. Dieser macht sich einer Kombination von Datenquellen zunutze, um datenbasierte Vorhersagen zu treffen und mit Hilfsleistungen zu beginnen, noch bevor es zur Katastrophe kommt. Das rettet Menschenleben, mindert Leid, reduziert den wirtschaftlichen Schaden und ist zudem kosteneffektiv.

Anticipatory Action als Antwort auf häufigere Katastrophen

Die Anzahl der Naturkatastrophen, die Menschenleben gefährden, wie Überflutungen, Dürren, Extremwetterphänomene, Erdrutsche etc., nehmen weltweit an Intensität und an Häufigkeit zu. Das ist größtenteils bedingt durch Folgen des Klimawandels. Die Schäden, die durch Naturkatastrophen verursacht werden, sind enorm. Und es trifft vor allem Menschen in Ländern, die ohnehin schon von Krisen und Konflikte gebeutelt werden. Rund 58 % der Todesfälle, die durch Naturkatastrophen verursacht werden, treten in den 30 fraglisten Ländern der Erde auf.

Herkömmliche Katastrophenhilfe, deren Gelder und Hilfen dann anrollen, wenn die Menschen schon alles verloren haben, es schon Tote und Verletzte zu beklagen gibt, greift zu kurz. Und genau hier kommt der Anticipatory Action-Ansatz ins Spiel.

Obwohl viele Studien bereits aufgezeigt haben, dass Katastrophenvorsorge kosteneffizienter und wirksamer ist, wird leider nicht genug Finanzierung dafür bereitgestellt. Würden mehr Mittel dafür eingesetzt, wären weniger Menschen den negativen Folgen von Naturkatastrophen ausgesetzt.
Marie-Theres Wohlfahrt, Referentin Humanitäre Hilfe World Vision Deutschland

So funktioniert der Anticipatory Action-Ansatz

Wissenschaftliche Daten als Basis des Anticipatory-Action-Ansatzes

Der Anticipatory Action-Satz, auch als Forecast-Based Action-Ansatz genannt, hat zum Ziel, schon vor der Katastrophe mit Hilfsmaßnahmen einzusetzen, um die Folgen einer Katastrophe für die lokale Bevölkerung auf ein Minimum zu reduzieren. Um zum einen einschätzen zu können, welche Hilfsmaßnahmen in Falle einer Katastrophe an einem bestimmten Ort bestmöglich greifen und um Vorhersagen treffen zu können, wann sich eine Katastrophe anbahnt und ab wann Hilfsleistungen anrollen, braucht es gute, verlässliche Datenquellen. Zum Beispiel kommen historische Temperaturdaten zum Tragen, wenn es darum geht zu bestimmen, ab wann sich in einer Region eine Dürre anbahnt.
 

Helfen, noch bevor es zur Katastrophe kommt

Diese sogenannten „Trigger“ sind vorab definiert und den lokalen Gegebenheiten angepasst. Man kann es sich wie eine umfassende Checkliste vorstellen. Wenn eine bestimmte Anzahl an Haken gesetzt ist, greifen die Hilfsmaßnahmen. Als Trigger könnte in einer Gegend, die oft von Starkregen gefolgt von Erdrutschen bedroht ist, eine bestimmte Regenmenge, verbunden mit dem Messen des Grundwasserspiegels etc. sein. Sind diese Bedingungen erfüllt, dann wird zum Beispiel Bargeld ausgegeben, damit sich die Menschen mit ihrem Hab und Gut in Sicherheit bringen können. Oder es werden, um Saatgut zu schützen, wasserdichte Container verteilt.
 

Schaubild Abfolge der Schritte des Anticipatory Action-Ansatzes
Quelle: eigene Darstellung nach Pichon (2019)

Für all diese Hilfsmaßnahmen müssen ebenfalls im Vorfeld Finanzierungsstrukturen vereinbart sein, damit die Hilfe umgehend erfolgen kann. Was einigermaßen einfach klingt, stellt sich in der Realität sehr komplex dar: mittels Studien wird regional erfasst, welche Hilfe in welchem Katastrophenfall am effektivsten greift, Mitarbeitende müssen geschult, Trigger definiert, und erfasst, Budgets flexibel geplant werden und möglicherweise auch schon Güter wie Nothilfekits bereitgehalten und eingelagert werden

Der Anticipatory Action-Ansatz zeichnet sich durch drei Elemente aus:

  • Die Hilfsmaßnahmen erfolgen bereits in Erwartung der Auswirkungen einer Katastrophe.
  • Frühzeitige Maßnahmen zielen darauf ab, die Auswirkungen zu verhindern oder abzuschwächen.
  • Die Maßnahmen werden durch eine datenbasierte Evaluation ausgelöst, die ein bestimmtes Ereignis vorhersagen.

Vorhersagebasiertes Handeln bei World Vision – ein Projektbeispiel

Finanziert von der Aktion Deutschland Hilft setzt World Vision ein Anticipatory Action-Projekt in Bangladesch, Indonesien, der Mongolei, Myanmar, auf den Philippinen und in Sri Lanka um.

All diese Länder sind besonders anfällig für Katastrophen. Der Asien-Pazifik-Raum wurde in den vergangenen 50 Jahren von Katastrophen heimgesucht, die 6,9 Milliarden Menschen beeinträchtigten und mehr als 2 Millionen Todesopfer gefordert haben (Quelle: UNESCAP).

Inhalt des Projekts ist es, gemeinsam mit den lokalen Akteuren sogenannte Aktionsprotokolle zu erstellen, die festhalten, welche Maßnahmen genau ergriffen werden, wenn die Trigger ausgelöst werden. Das beinhaltet zum Beispiel, Absprachen mit Lieferanten zu treffen, um Hilfsgüter vorzulagern oder mit der Bevölkerung Simulationen durchzuführen, um im Katastrophenfall zu wissen, was getan werden muss.

Alte Frau wird von Mann aus den Fluten getragen

In Bangladesch waren im Juni 2020 5,4 Millionen Menschen von einer schweren Überschwemmung betroffen - eine Situation, die alle 3 bis 5 Jahre eintreten könnte, während jährlich 1 Million Menschen von Überschwemmungen und Erdrutschen betroffen sind.

Schäden eines Zyklons in Indonesien

In Indonesien waren mehr als 90 % der Katastrophen im Jahr 2021 hydrometeorologisch bedingt - sie betrafen mehr als 7 Millionen Menschen.

Verendete Tiere durch Dürre in der Mongolei

In der Mongolei sind 35 % der geografischen Gebiete einem hohen Dzud-Risiko ausgesetzt - eine Katastrophe, die durch eine lange Trockenzeit gefolgt von einem strengen Winter verursacht wird, der zum Viehsterben aufgrund von Kälte und Futtermangel führt.

Frau vor ihrem durch einen Wirbelsturm zerstörten Haus in Myanmar

Myanmar wurde in den letzten vier Jahrzehnten von fünf großen Wirbelstürmen heimgesucht - Nargis, der verheerendste seit Menschengedenken in Myanmar, betraf 2,4 Millionen Menschen und kostete 138.373 Menschen das Leben.

Mann vor der Zerstörung, die ein Wirbelsturm auf den Philippinen angerichtet hat

Die Philippinen sind von immer wiederkehrenden Wirbelstürmen betroffen, die die hydrometeorologischen Gefahren noch verschärfen.

Zerstörte Straße nach Überschwemmungen in Sri Lanka

In Sri Lanka entstehen jährlich Schäden in Höhe von 313 Millionen US-Dollar, die hauptsächlich auf Überschwemmungen, Wirbelstürme oder starke Winde, Dürren und Erdrutsche zurückzuführen sind.

Antizipieren statt reagieren mit positiven Folgen

Durch den Anticipatory Action-Ansatz ist es möglich:

  • den Bedarf nach der Katastrophe zu reduzieren, der ohne diesen Ansatz nach einer Katastrophe gedeckt werden müsste.
  • Jeder Dollar, der in Anticipatory Action fließt, entspricht laut der Food und Agriculture Organization der Vereinten Nationen, bringt betroffenen Familien sieben Dollar an vermiedenen Verlusten.

Hilf uns, Leben zu retten!

Katastrophenhilfe

Nach einer Katastrophe sind wir innerhalb weniger Stunden vor Ort und leisten Nothilfe für Kinder und ihre Familien.

Aktion Deutschland Hilft e.V. (ADH)

In diesem Bündnis haben sich 23 renommierte deutsche Hilfsorganisationen zusammengeschlossen, um im Falle großer Katastrophen und Notsituationen gemeinsam schnell, effektiv und koordiniert helfen zu können.