29.08.2024

"In Afghanistan kann man etwas bewirken"

Autor: IManner

In Afghanistan herrscht kein Krieg mehr, aber die Bevölkerung erlebt die Veränderungen der letzten drei Jahre sehr unterschiedlich und die Nöte vieler Kinder sind weiterhin groß. Thamindri de Silva lebt seit einem Jahr in Afghanistan und leitet die Programme von World Vision in dem Land. Damit ist sie auch verantwortlich für die rund 900 Mitarbeitenden - größtenteils Afghaninnen und Afghanen. Im Interview spricht sie darüber, was die Menschen brauchen, wie Hilfe möglich ist und was sie motiviert, immer weiterzumachen.

Thamindri de Silvia besuchte von Erdbeben betroffene Orte in Afghanistan
Thamindri de Silvia ist seit einem Jahr Direktorin von World Vision Afghanistan

Frau de Silva, Sie leben und arbeiten seit einem Jahr in Afghanistan. Wie beschreiben Sie das Land jemandem, der noch nie dort war?

Thamindri de Silva: Es ist unvergleichlich. Wenn man über Afghanistan fliegt, sieht man nur kahle, rötliche Berge. Dazwischen ein paar grüne Flecken, sonst nichts. Kabul ist eine große Stadt mit einer chaotischen Verkehrssituation. Es gibt Autos, Rikschas, Tuk-Tuks, Fahrräder, Motorräder. Die Stadt ist architektonisch ein bisschen veraltet, aber schön. Die Städte sind entwickelt, Infrastruktur, Verkehr und so weiter. Aber in den ländlichen Gegenden sieht es ganz anders aus und viele Dörfer sind schwer erreichbar. Seit dem Krieg in den 70ern gibt es in vielen Regionen fast keine Bäume mehr. Sie wurden alle gefällt, um Gegner besser sehen und sich verteidigen zu können. Außer Lehmhäusern und Ackern sieht man oft nur eine flache Ebene aus Wüste und Gras. Es gibt in Afghanistan aber auch die vier Jahreszeiten und fantastisches Obst. Kirschen, Aprikosen, Feigen, Pistazien. Sie wachsen in Hülle und Fülle. Als ich Bilder von den Kirschen schickte, fragten meine Freunde: „Bist du in Europa?" Das sind Dinge, die viele nicht wissen, wenn sie an Afghanistan denken. 

Und wie ist das alltägliche Leben? 

70 bis 80 Prozent im Land ist landwirtschaftlich geprägt, aber Sie werden kaum einen Traktor sehen. Alles wird mit der Hand gemacht, es gibt nur sehr wenig Technologie. Das tägliche Leben ist nicht einfach, weil es auf dem Land so wenig Infrastruktur gibt. Man muss weit laufen, um Wasser zu holen. Eines der größten Probleme ist der Mangel an Jobs. Aus einigen der ärmsten Gegenden des Landes sind viele Männer in den Iran gegangen, weil es keine Arbeit gibt. Die Frauen übernehmen zu Hause die Arbeit auf den Feldern – obwohl sie strenggenommen seit 2021 nicht außerhalb des Hauses arbeiten dürfen.

Ein afghanischer Bauer gräbt seinen Acker mit der Schaufel um.
Landwirtschaft ist in Afghanistan noch weitgehend Handarbeit

Die Männer schicken etwa 50 Dollar im Monat zurück, wenn sie Glück haben. Der Durchschnittslohn in Afghanistan liegt bei 150 Dollar. Es ist also nicht viel, aber selbst für das bisschen müssen sie weggehen. Für die Männer bedeutet die Situation: Viel Druck lastet auf ihnen. Häufig müssen Männer mit einem Job nicht nur für ihre Frauen und Kinder sorgen, sondern 20, 30 oder 40 Familienmitglieder ernähren. 

Wie ist es für die Frauen? 

Frauen sind vom öffentlichen Leben weitgehend ausgeschlossen. Viele sind hochqualifiziert, haben bis vor drei Jahren zum Beispiel als Ingenieurinnen oder Anwältinnen in Unternehmen gearbeitet. Aber viele dieser Berufe sind ihnen jetzt versperrt und sie können sich auch nicht allein über weitere Strecken bewegen. Also sitzen sie zu Hause fest. Für die Frauen ist es frustrierend, viele sind an Depressionen erkrankt. Denn in den vergangenen 20 Jahren haben sie in Afghanistan ein ganz anderes Leben geführt, vor allem in den Städten. Und jetzt hat sich das wieder zurück entwickelt.

Afghanische Frau mit unterernährtem Kleinkind auf dem Arm
Wenig sichtbar: Frauen und ihre alltäglichen Sorgen, etwa um unterernährte Kinder

Wie hilft World Vision den Menschen in Afghanistan?

 World Vision hat als Kinderhilfsorganisation viel im Kinderschutz- und im Bildungsbereich gearbeitet. Seit 2021 mussten wir vieles umstellen und bauen die Programme gerade wieder aus. Wir leisten Nahrungsmittelhilfe, sorgen damit für Ernährungssicherheit und Existenzsicherung. Wir kümmern uns um die Wasserversorgung und Abwasserentsorgung sowie um die Gesundheit. Das ist unser Schwerpunkt, denn Gesundheit ist einer der wenigen Bereiche, in denen auch Frauen bei Hilfsorganisationen arbeiten dürfen. Insgesamt haben wir seit 2021 rund 5,1 Millionen Menschen in Afghanistan unterstützt. Und wir sind dabei, Programme einzuführen, die die Resilienz und auch den lokalen Katastrophenschutz stärken. Denn das Land erlebt immer häufiger extreme Wetterprobleme. Wir hatten zuletzt mehrere schreckliche Überschwemmungen und konnten einige Gebiete eine Zeit lang nicht erreichen. Wir müssen also dafür sorgen, dass die Gemeinden über die Strukturen und Mechanismen verfügen, mit denen die Menschen wissen, was im Ernstfall zu tun ist.

World Vision leistet auch in Afghanistan Aufklärung zu Kinderrechten.
Eine Mitarbeiterin spricht anhand von Bildern mit Müttern über kindgerechte Erziehungsmethoden.
Ein World-Vision-Mitarbeiter in Afghanistan organisiert eine Verteilung von Nahrungsmitteln.
Notleidende Familien erhalten Nahrungsmittelhilfe.

Was motiviert Sie bei Ihrer Arbeit?

Ich habe noch nie Menschen gesehen, die hungriger sind, zu lernen, voranzukommen, erfolgreich zu sein, wie in Afghanistan. Viele haben diesen Drang, sich selbst und ihren Familien ein besseres Leben zu ermöglichen. Das treibt sie an. Ein Beispiel: Meine Mitarbeitenden wollen häufig nicht in den Urlaub gehen. Zum einen, weil sie Angst haben, dass ihren Job jemand anderes übernehmen könnte. Aber vor allem, weil sie sagen: Wir müssen weitermachen! Afghanistan ist ein Ort, an dem man etwas bewirken kann. 

Wer sind die Helfer und Helferinnen? 

Obwohl wir World Vision International sind, haben wir von fast 900 Helfenden in Afghanistan nur 11 internationale Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Alle anderen sind lokale Helferinnen und Helfer. Und dieses Modell gefällt mir sehr. Warum? Wir versuchen, den Menschen die Fähigkeiten und die Möglichkeit zu geben, ihren eigenen Leuten professionell zu helfen. Wenn wir versuchen würden, die Perspektive und den Blickwinkel, den wir von außen haben, zu vermitteln – und ich bin ja auch eine Außenstehende –, würden wir nicht weiterkommen. Aber wenn wir ihre Geschichte, ihre Kultur nutzen, um den Weg zu finden, der für sie akzeptabel ist, dann ist das ein guter Weg für unsere Arbeit im Land.

spielende Kinder in Afghanistan
Recht auf Kindheit: Ballspiel in einem Projekt in der Provinz Ghor

Wie erreicht man Frauen mit Hilfe? 

Es gibt 34 Provinzen in Afghanistan. Der Zugang zu den Frauen ist in jeder Provinz anders. Bei manchen kann das Team einfach zu ihnen gehen, vor allem wenn es um die Gesundheitsversorgung geht. In anderen Fällen ist das nicht so einfach möglich oder nur übers Mobiltelefon. Wir wissen inzwischen, in welchen Projekten und wie wir Frauen erreichen können. 

Zum Beispiel von Frau zu Frau? 

Ja. Dafür brauchen wir aber weibliche Mitarbeiterinnen – zum Beispiel Ärztinnen. Eine der Herausforderungen ist, dass es im Laufe der Zeit immer schwieriger wird, neue Frauen zu rekrutieren. Denn es gibt inzwischen Lücken, weil Frauen in den vergangenen drei Jahren nicht studieren durften. Was brauchen die Menschen am meisten? Eines der wichtigsten Dinge sind Arbeitsplätze. Eine funktionierende Wirtschaft. Es geht darum, sich selbst helfen zu können. Für mich sind die Schlüssel Gesundheit, Wasser, Bildung und Nahrung. Millionen Menschen im Land haben nicht genug zu essen. Ja, Unterernährung und die Ernährungsunsicherheit sind große Probleme. Man sieht es bei Kindern. Man sieht es bei Frauen, schwangeren und stillenden Frauen. Und das liegt nicht daran, dass es auf dem Markt keine Lebensmittel gibt. Wenn Sie durch eine beliebige Stadt gehen, sogar in die Dörfer, werden Sie Gemüse sehen. Keine große Auswahl, aber es ist da. Das Problem ist, dass viele Familien es sich nicht leisten können.

Nothilfe von Frau zu Frau in Afghanistan
In einem Überschwemmungsgebiet sucht eine Frau Rat bei einer World Vision-Mitarbeiterin

Sie haben anfangs erwähnt, dass für Wasser mitunter weite Wege zurückgelegt werden müssen.

Ja, Afghanistan ist eines der trockensten Länder der Welt und der Zugang zu sauberem Wasser fast ein Luxus. Das Grundwasser ist auf einem historisch niedrigen Tiefstand. Im September vergangenen Jahres habe ich gesehen, wie Dorfbewohner ihre Häuser verließen und abwanderten, weil es in den Gebieten kein Wasser gab. Das kommt immer häufiger vor. Dann gab es plötzlich Überschwemmungen und Häuser und Lebensgrundlagen wurden zerstört. Jetzt erleben wir wieder eine Trockenperiode. Bedingt durch den Klimawandel droht die Situation nur dramatischer zu werden. Afghanistan ist eines der Länder, das mit am stärksten von den Auswirkungen betroffen ist. 

Afghanische Jungen schöpfen Wasser aus einem steinigen Bachbett.
Bei Trockenheit verwandeln sich Flüsse in Rinnsale und das Wasserholen wird infolge des Klimawandels noch mühsamer.

Wie sieht es mit der Gesundheitsversorgung im Land aus? 

Es gibt keine Krankenhäuser außerhalb der Bezirkshauptstädte. Es gibt keine flächendeckende Gesundheitsversorgung in diesem Land. Die Hilfsorganisationen leiten das Gesundheitssystem. Ähnlich ist es übrigens im Bereich Bildung. Es gibt nicht genügend Lehrer, nicht genügend Bücher, Stifte, keine Lehrpläne. Gruppen von Kindern werden in Etappen nacheinander unterrichtet. Ganz zu schweigen von der Tatsache, dass Mädchen ab der sechsten Klasse nicht mehr zur Schule gehen können. Wie soll sich dieses Land so auf seine Zukunft vorbereiten?

Wie funktioniert die Gesundheitsversorgung durch Hilfsorganisationen wie World Vision derzeit? 

Zunächst lag unser Fokus auf mobilen Gesundheitseinheiten. Inzwischen richten wir vor allem Gesundheitszentren an festen Orten ein. Wir haben Gebäude gemietet, die in den Dörfern liegen – natürlich strategisch so, dass möglichst viele Menschen sie erreichen können. Manchmal versorgt ein Gesundheitszentrum also 500 oder 1.000 Menschen. An abgelegeneren Orten manchmal 10.000 Menschen. Für die Menschen ist unser Angebot sehr wertvoll: Stellen Sie sich eine schwangere Frau vor, die zu Fuß oder mit einem Motorrad unterwegs ist. Es gibt kaum richtige Straßen und die Klinik in der nächsten größeren Stadt ist Stunden weg. Eine kaum tragbare Situation. 

 

Ein afghanischer Vater zeigt stolz sein Baby bei einer Gesundheitsberatung von World Vision
Die Gesundheits-und Ernährungsberatung zeigt Wirkung - Kindersterblichkeit geht zurück

Was sind direkte Ergebnisse Ihrer Arbeit? 

Wir sehen in unseren Gesundheitszentren, dass die Kindersterblichkeit zurückgeht. Die Zahl der Frauen, die bei der Geburt sterben, ist zurückgegangen. Unsere Helfenden sind Ärzte, Krankenschwestern und Berater, die sich auch um das Thema Ernährung kümmern und auch um psychosoziale Unterstützung. Das ist wichtig, um Traumata etwa nach dem jüngsten Erdbeben, nach Kriegserfahrungen und geschlechtsspezifischer Gewalt aufarbeiten zu können. Und was sind Herausforderungen? Eine Herausforderung ist, dass viele anderen Menschen, insbesondere Fremden, nicht vertrauen. Wenn wir also Gesundheitszentren haben, die Menschen in einem Umkreis von 20, 30 Kilometern betreuen – dann kommen Fremde ins Dorf, um medizinische Versorgung zu erhalten. Es ist dann unsere Aufgabe, den Dorfbewohnern zu sagen: "Jeder darf hierherkommen, wir wissen, was wir tun. Es ist genug für alle da, niemand nimmt jemandem etwas weg." Eine weitere Herausforderung besteht darin, dass gerade unsere Fachkräfte für psychosoziale Beratung nur bis zu einer gewissen Grenze helfen können. Aber was dann? In Afghanistan gibt es keine psychiatrischen Einrichtungen, an die wir schwierige Fälle überweisen können. Wir können nur eine primäre Gesundheitsversorgung leisten.

Was, wenn die Helfenden selbst Hilfe brauchen? 

Wir haben immer ein Auge auf das Wohlergehen unserer eigenen Mitarbeitenden. Auch sie haben viel durchgemacht in den vergangenen Jahren. Auch sie sind traumatisiert. Wir haben auch für sie und ihre Familien eine psychosoziale Beratung eingerichtet, um ihnen bei der Bewältigung von Krisen zu helfen. Eben habe ich erzählt, dass viele Mitarbeitende nicht gern in den Urlaub gehen. Es ist aber wichtig, dass sie Freizeit haben. Und es ist meine Aufgabe, darauf zu achten, dass sie nicht über ihre eigenen Grenzen gehen. Denn nur dann können sie sich um andere kümmern.