Die Sonne auf dem Gesicht
Wenn das Wetter schön ist, lässt Raja* sich gern vor die Haustür schieben. Dort denkt sich die Zehnjährige manchmal ein neues Lied aus, denn sie singt gern. Langsam wagt sie sich auch etwas weiter hinaus, mit ihrer Mutter als Helferin und Beschützerin.
Eine Sozialarbeiterin von World Vision lud Raja vor einigen Monaten in ein Kinderzentrum ein. Das Mädchen brauchte viel Mut und Tapferkeit, um diese Einladung anzunehmen. So vieles sprach dagegen, das Haus zu verlassen. Der Stadtteil von Mossul, in dem Raja zuhause ist, wurde in der Schlacht gegen den sogenannten "Islamischen Staat" in ein Trümmerfeld verwandelt. Rajas Rollstuhl trifft überall auf Hindernisse, denn auch zwei Jahre nach dem Ende der Schlacht sind die Zerstörungen noch nicht beseitigt. Zwischen den Trümmern lauern auch zahlreiche Minen und Granaten, die jederzeit explodieren können.
Vor allem hindern aber ihre Erinnerungen Kinder wie Raja daran ihre Häuser zu verlassen. Zu schrecklich war das, was dort draußen passiert ist. Und ihr Überlebensinstinkt sagt ihnen, dass es im Inneren sicherer ist.
"Ich bin nicht gerne eine Gefangene zuhause", erzählt Raja . "Eigentlich mag ich es, draußen zu sein und mit Freunden zu spielen, aber ich habe mich daran gewöhnt allein zu sein, vor allem seit meiner Verwundung."
Raja ist tough. Sie klagt nicht darüber Opfer dieses Krieges geworden zu sein. Sie schildert den brutalen Angriff auf ihren kleinen Köper und die anschließenden Operationen, ohne Schmerzen zu erwähnen. "Manchmal passieren solche Dinge", sagt sie nur. Vielleicht ist diese Philosophie aber auch Teil ihrer Überlebensstrategie. Auf jeden Fall freut sie sich teilnehmend zuhörenden Menschen endlich ihre Geschichte erzählen zu können.
Bei Luftangriffen wurden Kinder nicht geschont
"Es war ein Freitag Morgen und mein Vater war zum Beten in die Moschee gegangen", beginnt Raja ihre Erzählung. "Ich war zuhause, saß an der Tür. ISIS-Leute schossen nahe unserem Haus auf ein Flugzeug und es schoss zurück. Unser Haus hat gebebt. Wir hatten Angst, dass das Dach über uns einstürzt und rannten hinaus. Wir kamen bis zum dritten Haus. Da fiel eine Bombe. Ich erinnere mich, dass ich auf dem Boden lag. Ich sah, wie meine Hand blutete. Ich sah auf meinen Bauch, der blutete auch."
Nachbarn zogen das schwer verletzte Mädchen ins Haus, konnten es aber wegen der Kämpfe nicht sofort ins Krankenhaus bringen. Schließlich kam Raja dort aber an, wo Ärzte darum kämpften, die Blutung zu stoppen und ihre Beine und Füße zu retten. Es gelang, aber für die Seele eines Kindes gibt es keine Notoperation.
Nach zwei Monaten wurde Raja aus dem Krankenhaus entlassen. Sie hatte eine Hand verloren, und ihre Füße und Beine waren stark verletzt. Sie musste überall hin getragen werden. Erst viele Monate später bekam sie einen Rollstuhl, den World Vision zur Verfügung stellte. Und es dauerte noch eine Weile, bis sie diesen benutzte. "Ich wollte das Haus nicht verlassen, also blieb ich drinnen", sagt Raja. "Oft saß ich am Eingang und fühlte die Wärme der Sonne auf meinem Gesicht."
Vielleicht hat diese Wärme sie ein wenig geheilt, in der Stille nach dem Krieg. Vielleicht hat sie geholfen, die Hoffnung am Leben zu erhalten. Doch es gab so viele Gründe, nicht zu gehen. Der Hindernislauf durch eine zerstörte Stadt. Ihr Körper sah anders aus als vorher. Und das Kinderzentrum war eine unbekannte Perspektive. Schließlich fand Raja den Mut dazu. Sie ging das Risiko ein.
Die Wiederherstellung der mentalen Gesundheit bei diesen Kindern ist wegweisend für die Rückgewinnung der Kindheit und des Zugangs zu Bildung.
Bilder von der Schönheit der Natur säumen die Mauern des Kinderzentrums. Selbst gemalt von Jungen und Mädchen, die sich danach sehnen, über eine Stadt aus Trümmern hinauszuschauen. Die kleine Oase ist kostbar für Kinder. Draußen bleibt ein Großteil der Stadt zu unsicher für Spiele. Aber im Inneren ist alles stabil und vorhersehbar. Die Mitarbeiter sprechen leise und freundlich. Sie drängten Raja nicht zum Reden oder zur Teilnahme, bevor sie bereit war. Sie konnte einfach zusehen und zuhören, wie andere Kinder Lieder malten, spielten und sangen.
Im Kinderzentrum geschieht aber noch mehr. Traumatisierte Kinder wie Raja erhalten dank der Zusammenarbeit mit einer lokalen Partnerorganisation und Zuschüssen der deutschen Bundesregierung zum Projekt professionelle Hilfe für ihre psychologischen Bedürfnisse. Bei Raja, deren Familie die Hilfe dankbar annahm und unermüdlich unterstützte, zeigten sich in den folgenden Monaten fortschreitende Verbesserungen ihrer seelischen Verfassung. Die Heilung ist nicht einfach. Aber sie kommt. Es ist als ob die Sonne, die einst warm auf Rajas Gesicht strahlte, jetzt aus ihrem Inneren strahlt.
"Ich liebe es, Bilder zu zeichnen und zu malen. Ich male gerne Berge und Flüsse....weil ich an diese Orte gehen will." Wundersamerweise können Hoffnung und Schrecken im selben Kind zusammenleben. Mit der richtigen Pflege, Unterstützung und Sicherheit wird die Hoffnung langsam stärker. Allmählich verliert sich der Schrecken.
Mit zehn Jahren steht Raja an der Schwelle zum Teenageralter. Es gibt so viel zu bedenken. Und obwohl ihre Stadt in Trümmern liegt, baut sich Raja eine Zukunft im Kopf auf. Es ist eine, die diese vergangenen Schrecken in etwas Wunderbares verwandelt. Etwas, um anderen zu helfen. "Ich wäre gerne Ärztin", sagt sie. "Ich will wie der Arzt sein, der mir geholfen hat, damit ich auch anderen helfen kann." Für viele irakische Kinder ist ein Arzt das Äquivalent zu einem Superhelden: jemand, der dir das Leben gerettet hat.
Die Leiterin unserer Hilfsprogramme im Irak, Nicole Peter, legt Ihnen diese Kinder ans Herz. Sie sagt: "Es ist erschütternd zu sehen, welche Wirkungen die erlebte Gewalt bei den Kindern hinterlassen hat. Manche haben durch Verletzungen ihre Gesundheit verloren, andere ihr Zuhause, Familienmitglieder und auch Jahre der Bildung.
Die Wiederherstellung der mentalen Gesundheit ist bei diesen Kindern im Irak wegweisend für die Rückgewinnung der Kindheit und des Zugangs zu Bildung, der ihnen eine Zukunft eröffnet. Durch Therapieangebote und Kinderzentren können wir Kindern helfen, wieder an sozialen Aktivitäten und Lernumgebungen teilzunehmen. Als ich mit den Mitarbeitern in Mossul sprach, hörte ich Geschichten darüber, wie sich Mädchen und Jungen im Laufe der Zeit durch intensive Betreuung verändert haben. Kinder, die kontaktscheu oder in sich zurückgezogen kamen, spielen jetzt mit anderen.
Wir erreichen die Wiederherstellung des Wohlergehens und der Zukunftschancen nur mit ganzheitlichen Ansätzen. Hierbei müssen die unmittelbaren Bedürfnisse der Kinder , aber auch die eigentlichen Ursachen ihrer Probleme berücksichtigt werden. Unsere neuen Programme unterstützen Eltern auch dabei, eine Arbeit zu finden oder selbstständig einen Lebensunterhalt zu verdienen, und diese Hilfe wirkt sich ebenfalls positiv auf Kinder aus, indem sie einige der Stressfaktoren in den Familien reduziert."
* Name des Kindes zum Schutz der Identität geändert
Fotos und Interview: Brett Tarver (World Vision Canada)
Video: Corey Scarrow
Text: Deborah Wolfe / Iris Manner