17.12.2020

Humanitäres Handeln ist bedroht

Helfer werden zur Zielscheibe, während Bedarf an Hilfe steigt

Autor: Iris Manner

Von Nina Nepesova, Global Director, Humanitarian Policy & Advocacy, bei World Vision International. 

Wir sprechen vom "humanitären Völkerrecht" (HVR) und  stellen uns darunter Regeln vor, die dazu dienen Leben zu retten. Schließlich ist es "humanitär". Eine der geläufigsten Gewohnheitsregeln besteht darin, während eines Krieges oder bewaffneten Konfliktes zwischen Zivilisten und Kombattanten (Kämpfern) zu unterscheiden.[1] Doch als Neuling in der praktischen humanitären Hilfe musste ich ziemlich schnell lernen, dass es beim humanitären Völkerrecht ebenso sehr um die Kriegsführung wie um den Schutz von Leben geht. Gespräche mit dem Militär über dieses Thema führten zu Frustrationen. Wo ich eine Regel über den Schutz von Leben sah, sahen sie eine Regel über militärische Taktiken. Interessanterweise beschreiben sie das HVR als die Gesetze des Krieges.

Nach fast 20 Jahren Arbeit für den Schutz notleidender Menschen kann ich sagen, dass diese Dualität der Blickwinkel Kindern und Zivilisten wenig Vorteile bringt. Nach meiner Erfahrung scheint sich die "Waage" des humanitären Völkerrechts zu Gunsten der Kriege zu neigen. Töten und Unterdrückung herrschen vor. Politische Bemühungen, Frieden zu schaffen, sind glanzlos. Diejenigen, die Einfluss haben, sind sich über kollektive Ziele kaum einig; viele geben Lippenbekenntnisse zu "Rechten", "Menschlichkeit" und "Unantastbarkeit des Lebens" ab, während sie mit dem Verkauf von Waffen an Verbrecher Geld verdienen. Und das sind diejenigen, die sich zum humanitären Völkerrecht "bekennen". Viele bewaffnete Akteure tun das nicht.

Sich die Realität anzusehen ist oft schwer auszuhalten. 10.173 getötete und verstümmelte Kinder allein 2019 -  und das sind nur die überprüften Fälle. Tausende weitere Tote und Verletzte bleiben jedes Jahr unbestätigt, weil sie nicht zugänglich sind. Obwohl es sich um eine eklatante Verletzung des humanitären Völkerrechts handelt, werden unschuldige Kinder weiterhin Opfer von vorsätzlichen oder wahllosen Angriffen. Weltweit haben sich Angriffe auf Schulen und Krankenhäuser, die durch Regierungsbefehle oder Staatsvertreter verübt wurden, fast verdoppelt.[2] Gewaltsam ausgetragene Konflikte zwingen täglich Kinder zur Flucht. Die Zahl der weltweiten Flüchtlinge hat mit 26 Millionen einen noch nie dagewesenen Höchststand erreicht, die Hälfte davon sind Kinder.[3] 

Konflikte treiben den Hunger in nie dagewesene Höhen. Sowohl COVID-19 als auch der Klimawandel wirken sich weltweit negativ auf die Ernährungssysteme aus.[4]

2020 war zwar die Pandemie das beherrschende Thema, doch der Aufruf des UN-Generalsekretärs zu einem globalen Waffenstillstand erhielt nur wenig Unterstützung. Ja, es gab Verhandlungen um die Zivilbevölkerung zu schützen oder den humanitären Helfern zu ermöglichen, Hilfe zu liefern. Gleichzeitig änderte sich aber die Art der Austragung von Feindseligkeiten kaum. Nach Angaben der WHO  gab es zum Beispiel  während der Pandemie weiterhin Angriffe auf Gesundheitseinrichtungen.

Arbeit von Helfern wird aus politischen Gründen behindert 

Regierungen stellen das Konzept des Humanitarismus aktiv in Frage. Umstrittene Gesetze und Sanktionen zur Terrorismusbekämpfung engen den Raum für die prinzipiengeleitete Hilfe zunehmend ein oder kriminalisieren die Arbeit der Helfer sogar - "mit der Konsequenz, dass Hilfsorganisationen Menschen in größter Not nicht mehr erreichen können. Gerade in Kriegs- und Konfliktgebieten droht daher, dass Hilfe aus politischen Gründen verwehrt wird."[6]  In den besetzten palästinensischen Gebieten zum Beispiel sehen sich humanitäre Organisationen mit Hindernissen konfrontiert, die von physischen und administrativen Beschränkungen des Zugangs und der Bewegung des Personals bis hin zu Einschränkungen bei der Lieferung von Materialien reichen, die für humanitäre Projekte benötigt werden[7]. Laut Freedom House haben in den letzten 15 Jahren 11 afrikanische Regierungen Maßnahmen ergriffen, die die legitimen Aktivitäten von Nichtregierungsorganisationen einschränken, indem sie Hindernisse in ihrem operativen Umfeld errichteten.[8]

In vielen Gebieten, in denen die betroffene Bevölkerung bereits unter Druck stand, sank ihre Fähigkeit, auf Hilfe zuzugreifen dramatisch.
Nina Nepesova

In seinem Bericht über Kinder und bewaffnete Konflikte aus dem Jahr 2020 hat der UN-Generalsekretär 4.400 Vorfälle untersucht, in denen Kindern der Zugang zu humanitärer Hilfe verweigert wurde, was den höchsten Anstieg aller Verstöße im Vergleich zum Vorjahr darstellt. Obwohl nicht-staatliche Akteure für die meisten Vorfälle verantwortlich waren - insbesondere im Jemen, in Mali, in der Zentralafrikanischen Republik und in Syrien - wurde auch "etwa 2.127 Kindern der Zugang zu spezialisierter medizinischer Versorgung außerhalb des Gazastreifens verzögert und/oder verweigert."[9]

Während der gesamten Pandemie haben Regierungen auf der ganzen Welt Maßnahmen ergriffen, die die Zugangsbeschränkungen weiter verschärften. In vielen Gebieten, in denen die von der Krise betroffene Bevölkerung bereits unter Druck stand, sank ihre Fähigkeit, auf Hilfe zuzugreifen, dramatisch. Extreme und sehr hohe Einschränkungen wurden in den fragilsten Kontexten verzeichnet - Syrien, Afghanistan, DRC, Irak, Palästina, Somalia, Südsudan und Venezuela. Kurz gesagt, wo die Dinge schon schlecht waren, wurden sie noch schlimmer.[10]

World Vision-Helfer füllen einen Wassertank in einem Flüchtlingslager
Sauberes Wasser schützt Leben. Es in Krisengebiete zu bringen erfordert oft großen Einsatz.
Mütter mit Kleinkindern warten in einer Klink im Südsudan
Der Zugang zu Gesundheitseinrichtungen muss geschützt werden.

Ich glaube, dass 2021 das bisher herausforderndste Jahr für humanitäre Hilfsmaßnahmen sein wird. COVID-19 hat die Lebensgrundlagen sehr vieler Menschen zerstört, Ungleichheiten vergrößert und den ärmsten Kindern Chancen auf Bildung genommen  - mit weitreichenden Folgen. Die aktuelle Übersicht der Vereinten Nationen zu Krisen weltweit hebt eine Vielzahl von Problemen hervor, die unter anderem Armut, Konflikte, Hunger, Klimawandel und Vertreibung umfassen. Die eigenen Analysen von World Vision enthalten ähnliche Einschätzungen.[11] Mit rund 235 Millionen Menschen, die voraussichtlich humanitäre Hilfe benötigen und deren Recht auf Hilfe verteidigt werden muss, werden wir mehr denn je beschäftigt sein.[12]

seit Jahren sind inoffizielle Zeltlager das Zuhause zehntausender Menschen in Syrien
Winterkälte und mangelnde Versorgung gefährden das Leben vieler Vertriebener in Syrien

Während der Vorstellung des Globalen Humanitären Überblicks 2021 durch die Vereinten Nationen forderte World Vision-Präsident Andrew Morely, gemeinsam mit führenden Vertretern anderer Nichtregierungsorganisationen, Politiker der Staaten auf, Zugang und Unterstützung für humanitäre Helfer zu gewährleisten, um die Herausforderungen durch Krisen zu bewältigen. Er forderte die Verantwortlichen auch auf, auf die Stimmen der Kinder zu hören und ihre Lebenschancen über politischen Streit zu stellen.

Spielt es also eine Rolle, ob es ein regelbasiertes System gibt, wenn sich niemand an die Regeln hält?

Trotz der Enttäuschungen sage ich "Ja". Solange es Stimmen für die Rechenschaftspflicht gibt, wird die Rechenschaftspflicht folgen. Um Reverend Martin Luther King Jr. zu zitieren: "Lasst uns erkennen, dass der Bogen des moralischen Universums lang ist, aber er biegt sich in Richtung Gerechtigkeit." Als Mitarbeiterin einer humanitären Organisation ist es meine Aufgabe, Leben zu retten und zur Rechenschaftspflicht beizutragen, auf jede Weise, die ich kann. Ich weiß, dass ich nicht allein bin - wir sind, um einen militärischen Begriff zu verwenden, eine Legion. Wir sind die Schutzwaage auf der Skala der Kriegsregeln.

 

Quellen:
 

[1] Gewohnheitsrechtliches HVR, Band II, Kapitel 1, Abschnitt A: Regel 1. Das Prinzip der Unterscheidung zwischen Zivilisten und Kombattanten: Die Konfliktparteien müssen zu jeder Zeit zwischen Zivilisten und Kombattanten unterscheiden. Angriffe dürfen nur gegen Kombattanten gerichtet werden. Angriffe dürfen sich nicht gegen Zivilisten richten. Die Staatenpraxis etabliert diese Regel als eine Norm des Völkergewohnheitsrechts, die sowohl in internationalen als auch in nicht-internationalen bewaffneten Konflikten gilt,

2] Bericht des UN-Generalsekretärs über "Kinder und bewaffnete Konflikte", 2020, https://reliefweb.int/report/world/children-and-armed-conflict-report-secretary-general-a74845-s2020525

[3] UNHCR 2019 Global Trends in Forced Displacement, 18. Juni 2020, https://www.unhcr.org/globaltrends2019

[4] UN OCHA, Global Humanitarian Overview 2021

[5] WHO, Angriffe auf die Gesundheitsversorgung im Kontext von COVID-19, https://www.who.int/news-room/feature-stories/detail/attacks-on-health-care-in-the-context-of-covid-19.

[6]  Anti-Terrormaßnahmen und Sanktionsregime: Shrinking Space für Humanitäre Hilfsorganisationen, CHA 2020, https://www.chaberlin.org/wp-content/uploads/2020/02/2020-02-counterterrorism-de-online.pdf

[7] UN OCHA, Humanitärer Raum, https://www.ochaopt.org/theme/humanitarian-space

[8] Die Ausbreitung von Anti-NGO-Maßnahmen in Afrika: Freedoms Under Threat, Sonderbericht 2019, Freedom House, https://freedomhouse.org/report/special-report/2019/spread-anti-ngo-measures-africa-freedoms-under-threat

[9] Bericht des UN-Generalsekretärs über "Kinder und bewaffnete Konflikte", 2020

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