Die Nadel summt, die Finger fliegen. Stoffstapel werden in Rekordgeschwindigkeit zusammengenäht. „60 Hosentaschen pro Stunde“, erklärt Bithi hinter der Nähmaschine. In einem Raum im zweiten Stock mit 20 anderen Frauen aus Bangladesch sitzt das 12-jährige Mädchen vor ihrer Maschine, während das Neonlicht kalt über den Köpfen leuchtet. Bithi ist eines von Tausenden Kindern in Bangladesch, die Designerjeans zusammennähen, die sie sich selbst nie leisten können.
Am ersten Tag der Arbeit fühlte ich mich schlecht. Ich musste weinen.
Die Kleidung wird später in Geschäften in Kanada, den Vereinigten Staaten oder anderen reichen Ländern wie Deutschland verkauft. „Am ersten Tag der Arbeit fühlte ich mich schlecht. Ich war so klein und nur von älteren Menschen umgeben. Ich musste weinen“, erinnert sich Bithi. Mittlerweile ist die Arbeit für sie zur Routine geworden. Täglich hilft Bithi, mindestens 480 Jeanshosen herzustellen – für umgerechnet weniger als einen Euro Lohn am Tag.
Fast jedes zehnte Kind muss arbeiten
Die internationale Staatengemeinschaft hat sich das Ziel gesetzt, Kinderarbeit bis 2025 zu beenden. Resolutionen und Konventionen fordern von Staaten, die schlimmsten Formen von Kinderarbeit zu unterbinden. Als Kinderarbeit werden Arbeiten bezeichnet, für die Kinder entweder zu jung sind oder die gefährlich, ausbeuterisch oder aus anderen Gründen schädlich sind. „Kinderarbeit im Allgemeinen darf aber nicht mit ausbeuterischer Kinderarbeit oder Zwangsarbeit gleichgesetzt werden. Denn leichte alters- und entwicklungsgerechte Arbeiten können sogar positive Auswirkungen auf Kinder haben“, sagt Kristina Kreuzer, Expertin für Kinderrechte und Kinderschutz bei World Vision Deutschland. In den meisten Ländern gibt es ein Mindestalter für legale Beschäftigung. Dieses liegt in der Regel zwischen 14 und 16 Jahren. In Gesetzen ist dann genauer festgelegt, welche Bedingungen zum Schutz des Kindeswohls erfüllt sein müssen.
Aktuellen Schätzungen zufolge müssen weltweit 160 Millionen Mädchen und Jungen arbeiten – das heißt: fast jedes zehnte Kind. Sie sind billige Arbeitskräfte und in vielen Branchen tätig. Mehr als 70 % der 5- bis 17-Jährigen arbeiten in der Landwirtschaft einschließlich der Fischerei. Dienstleistungen erbringen ca. 17 % der arbeitenden Kinder, beispielsweise im Groß- und Einzelhandel, in Hotels und Restaurants, im Transport- und Lagerwesen und in anderen Bereichen. Knapp 12 % der arbeitenden Kinder sind in der Industrie beschäftigt, oft als Hilfskräfte. Unter Zwangsbedingungen, die natürlich illegal sind, arbeiten allein in der Asien-Pazifik-Region mindestens 1,5 Millionen Kinder. Sie stellen Teppiche, Kleidung oder Ziegel her, zertrümmern Steine, verarbeiten Fisch oder Garnelen, schneiden Bambus, mahlen Reis, setzen Spielzeug zusammen, bauen Cobalt für unsere Handyakkus ab oder montieren elektronische Geräte. Die meisten Kinder, die arbeiten, haben keinen Arbeitsvertrag. Jungen findet man eher in sichtbaren Beschäftigungen, während Mädchen vor allem im Verborgenen arbeiten, etwa in Haushalten. „Dort werden arbeitende Kinder häufig Opfer von sexualisierter Gewalt und Misshandlung“, sagt Kristina Kreuzer.
Armut führt zu Kinderarbeit
Wie bei Bithis Familie ist bittere Armut die Hauptursache für Kinderarbeit. Je unsicherer die Existenzgrundlage ist, desto größer ist der Druck auf die Kinder, zum Einkommen beizutragen oder früh für sich selbst zu sorgen. Wenn gute Bildungs- und Ausbildungsangebote fehlen, erscheint es manchen Eltern umso sinnvoller, die Arbeitskraft ihrer Kinder zu nutzen. Auch wenn sie sehen, dass viele Schulabgängerinnen und -abgänger keine Arbeit finden, sind sie noch weniger bereit, in die Bildung ihrer Kinder zu investieren. Gegen Krisen sind arme Familien häufig schlecht abgesichert. So müssen Kinder einspringen, wenn z. B. Vater oder Mutter sterben, arbeitsunfähig werden, die Familie verlassen oder die Ernte zerstört ist. Manche Kinder erben von ihren Eltern Schulden und werden dann als Arbeitskräfte regelrecht gehandelt und ausgebeutet, um diese Schulden abzutragen. Je schlechter die Situation der Kinder ist, z. B. aufgrund der ungünstigen Wirtschaftslage oder dem großen Preisdruck auf Unternehmen, und kennen Kinder sowie Familien ihre Rechte nicht, dann ist das Risiko der Ausbeutung besonders groß.
Durch die Corona-Pandemie wurden weltweit etwa acht Millionen Kinder zusätzlich in Kinderarbeit gedrängt.
Kinderarbeit und Bildung
Den Wunsch zu lernen und etwas aus ihrem Leben zu machen, haben sehr viele arbeitende Kinder, und manche schaffen es auch. Viele Untersuchungen zeigen aber, dass Kinderarbeit nicht gut mit Bildung zu vereinbaren ist. Rund ein Drittel aller 5- bis 14-jährigen arbeitenden Kinder geht nicht zur Schule. Und diejenigen, die es doch versuchen, haben es oft schwer, gute Lernergebnisse zu erzielen, weil sie müde zum Unterricht gehen oder keine Zeit haben, um außerhalb des Klassenraums zu lernen. Die Zahl der Schulabbrecherinnen und -abbrecher ist hoch unter arbeitenden Kindern. Ohne Bildung und Schulabschluss haben diese jungen Menschen allerdings nur geringe Chancen, eine besser bezahlte Arbeit zu finden und so der Armut zu entkommen. Sie haben zum Teil mehrere Jahre keine Schule mehr besucht und können durch diese Maßnahme wieder Anschluss an die Regelschule finden. Außerdem unterstützen wir Jugendliche darin, eine Ausbildung zu absolvieren, helfen Eltern, neue Verdienstmöglichkeiten zu finden oder bilden sie weiter, damit sie nicht vom Einkommen ihrer Kinder abhängig sind.
Kinderarbeit und Corona
„Durch die Corona-Pandemie wurden weltweit etwa acht Millionen Kinder zusätzlich in Kinderarbeit gedrängt, da viele Eltern ihren Arbeitsplatz verloren, krank wurden oder aufgrund von fehlenden staatlichen Hilfen oder Lohnkürzungen das Familieneinkommen nicht mehr allein bestreiten konnten. Die monatelangen Schulschließungen begünstigten zudem, dass diese Kinder arbeiten gehen mussten, anstatt in die Schule gehen zu können“, berichtet unsere Expertin Kristina Kreuzer.
Auch Kinder im Libanon berichten davon, wie im folgenden Video zu sehen: