An einem kalten Januarmorgen öffnen die sechsjährige Sasha und ihre Mutter die Tür zu dem hellen Zimmer eines Kinderschutzzentrums in der ukrainischen Stadt Dnipro. Der Kontrast zwischen der Luft draußen und dem geheizten Innenraum ist sofort spürbar. Sasha lässt ihre knallroten Stiefel neben der Metalltür stehen und stürmt in den Raum, der mit bunten Holztischen, riesigen weichen Kissen, Spielzeug und Brettspielen vollgestopft ist. Zunächst wirft sie einen noch zögerlichen Blick auf den Stapel Kisten mit Puzzles, Büchern und ein paar Legosteinen, bevor sie sich für die bunten Bausteine entscheidet. Sie will ein mehrstöckiges Wohnhaus bauen, genau wie das, das sie in Lyman, Region Donezk, in der Ostukraine, zurückgelassen hat. Sie denkt oft an die Wohnung im ersten Stock, wo sie Kakao und Milch trank, bevor sie in den Kindergarten ging, und wo ihre Mutter ihr vor dem Schlafengehen Märchen vorlas.
Seit fast zwei Jahren verblasst dieses Bild langsam. Aber es gibt eine Reihe von Erinnerungen, die noch sehr präsent sind: der Keller, der Beschuss, die lauten Geräusche und die Trümmer, zu viele Trümmer. Der Krieg ist auch in Dnipro allgegenwärtig und ruft diese traumatischen Erinnerungen immer wieder neu wach. "Ich hoffe, dass ich irgendwann nach Hause zurückkehren kann", sagt Sasha, fast flüsternd.
Seit kurzem besucht Sasha das Kinderzentrum mit Lern-und Spielräumen, das von der Organisation Divchata ("Mädchen"), einem lokalen Partner von World Vision in der Ukraine, geleitet wird. "Wir haben uns sofort in diesen Ort verliebt. Hier gibt es viel Wärme, Komfort und Fürsorge", erzählt Oksana, Sashas alleinerziehende Mutter.
Während Sasha Stein für Stein vorankommt, hört sie ein lautes Geräusch aus der Lobby des Gebäudes - jemand hat die massive Eingangstür geschlossen. Sie zuckt augenblicklich zusammen, und eine überwältigende Angst macht sich in ihren Augen breit. Der Mutter entgeht das nicht. "Als sie anfing, die Angriffe mitzuerleben, wurde sie reizbar und nervöser. Sie konnte schon bei kleinen Auslösern anfangen zu weinen", erklärt uns Oksana. Dem World Vision-Mitarbeiter Dmytro schildert sie dann, welche Wirkung das Kinderzentrum bei ihrer Tochter bisher gehabt hat. "Sashas Bilder zeigten am Anfang das Durcheinander in ihrem Kopf, aber durch die Teilnahme an den Aktivitäten des Zentrums malt sie jetzt viel klarer und farbenfroher."
Ich kannte niemanden in dieser Stadt, als wir unser Haus in Lyman verlassen mussten. Hier habe ich jetzt aber Freunde gefunden
Leben im Untergrund
Am 16. Mai 2022 flohen Oksana und ihre Familie überstürzt und völlig betäubt aus Lyman. Die Stadt wurde genau eine Woche nach ihrer Abreise besetzt, aber das, woran sie sich aus der Zeit vor ihrer Abreise erinnert, könnte man als "Leben im Untergrund" bezeichnen. "Als die Städte um uns herum nach und nach besetzt wurden, lagerten wir einige verarbeitete Lebensmittel ein, aber wir beteten, dass wir sie nie brauchen würden", erinnert sich Oksana.
Da alle Geschäfte geschlossen waren, improvisierten sie. In der ganzen Stadt gab es keinen Strom, keine Heizung und kein warmes Wasser. Sie sammelte kleine Äste und Zweige aus ihrem winzigen Garten, machte ein Feuer und baute aus ihren Vorräten eine behelfsmäßige Küche. Sie lagerte zwei bis drei Kisten Kartoffeln, Gläser mit Honig und stützte sich hauptsächlich auf Lebensmittel aus Dosen. Sie eilte zum Kochen in den Hof, sobald die Geschosse, und sei es auch nur für kurze Zeit, ihre Nachbarschaft verfehlten. Aber sie schien immer mit einem Timer zu arbeiten. "Gerade wenn man dachte, die Angriffe würden für ein paar Minuten aufhören und man nach draußen ging, um Wasser zu erhitzen, hörte man die lauteste Explosion", erinnert sich Oksana. Sie fährt fort: "Es war, als ob ein riesiger Felsbrocken ein paar Meter von dir entfernt heruntergefallen wäre."
Duschen war ein Luxus, den man sich nur einmal im Monat leisten konnte. Sasha und ihr 17-jähriger Bruder Maksym schliefen auf allem, was eine Matratze ersetzen konnte. Ihre Mutter improvisierte eine Matratze aus einem Stück einer alten Holztür und einem Stapel von Wintermänteln. "Da wir nicht für jeden eine provisorische Matratze hatten, schliefen wir in Schichten", erzählt Oksana. Sechs Menschen suchten Schutz vor dem massiven Beschuss der Stadt auf den wenigen Quadratmetern, die von Schimmel und feuchter Luft umgeben waren, wo das Tageslicht zur Illusion wurde: Oksana, ihre beiden Kinder, ihre 75-jährige Mutter und zwei weitere Freunde, die ihre Häuser verloren hatten.
"Dunkelheit, Kälte und Angst" dominierten laut Oksana an diesen Tagen. Tränen rinnen aus ihren dunkelblauen Augen, als sie sich daran erinnert. Für ihre Kinder versuchte sie aber stark sein. Bevor ihre Nachbarschaft in Schutt und Asche gelegt wurde, kaufte Oksana neun Brote und bewahrte sie im Gefrierschrank für die "schlimmsten Tage" auf. Aber es kam ihr damals noch keine Sekunde in den Sinn, dass sie keinen Strom haben würden. Um die Brote nicht zu verschwenden, verteilte sie sie nun an ihre Nachbarn. "Selbst in den unmenschlichsten Zeiten muss man sich für andere einsetzen. Das ist es, was uns alle am Leben gehalten hat. Hoffnung und Einigkeit", sagt sie.
Selbst in jenen trostlosen Tagen hoffte Oksana zunächst, dass es nicht allzu lange dauern würde. Dass sie bleiben könnten. Das hofften sie alle. Als diese Hoffnung von Tag zu Tag mehr schwand, wurde Oksana von einer Gruppe Freiwilliger dabei unterstützt, die Stadt zu verlassen. "Wohin gehen Sie als Nächstes?", fragte ein Freiwilliger, als sie zum ersten Mal am Bahnhof von Dnipro ankamen. Aber sie hatte nicht den geringsten Anhaltspunkt. Alles, was sie wusste, war, dass sie ihr Land nicht verlassen würde.
Die Familie blieb einige Tage in einer Kirche in Dnipro, bis man ihr mitteilte, dass sie abreisen müsse. Tausende von weiteren Ostukrainern waren auf dem Weg. "Es gab keinen Platz und keine Ressourcen mehr für uns alle, die Vertriebenen", erzählt Oksana. Mutter und Kinder zogen weiter nach Czernowitz in der Westukraine, aber als Oksana hörte, dass in einem Gemeinschaftshaus in Dnipro ein Zimmer frei war, kehrten sie zurück. Jetzt trennen sie nur noch 300 km von Lyman. Das Leben begann zum dritten Mal in weniger als zwei Jahren von vorne. Die Häufigkeit der Alarme und Explosionen erinnert sie immer noch an das "Leben im Untergrund". "Ich vermisse mein altes Leben", sagt Sasha. Sie fügt mit einem Schimmer in ihren blauen Augen hinzu: "Wenn ich groß bin, möchte ich Polizistin werden und für Frieden und Sicherheit in meinem Land sorgen."