Armut hat zahlreiche Facetten, aber für viele betroffene Familien gilt, dass sie keine gute wirtschaftliche Grundlage haben, um sich selbst versorgen und ein selbstbestimmtes, sicheres und würdevolles Leben zu führen. Ihre Ressourcen reichen auch meist nicht aus, um Krisen durch klimatische, wirtschaftliche oder politische Schocks ohne Hilfe zu überstehen.. Darunter leiden vor allem die Entwicklungschancen von Kindern, Jugendlichen und Frauen. Zum Beispiel, wenn Millionen Väter und Mütter als schlecht bezahlte, nicht abgesicherte Wander- und Saisonarbeiter ihren Lebensunterhalt verdienen müssen, weil es kaum Ausbildungs- und Arbeitsplätze vor Ort gibt. Oder Kleinbauern: Sie geraten schnell in Not, wenn wegen einer Dürre die Ernte ausfällt.
Vor diesem Hintergrund unterstützt World Vision arme Familien darin, Lebensgrundlagen aufzubauen, die nachhaltig und klimaresistent sind. Mit den unten näher beschriebenen Ansätzen wollen wir unter anderem Einkommen und Beschäftigung fördern, die landwirtschaftliche Produktion stärken und gesunde Umweltbedingungen erhalten bzw. wiederherstellen. Wir bestärken Familien, insbesondere Kinder, Jugendliche und Frauen darin, ihre Entwicklungspotentiale auszuschöpfen, ihren Alltag unabhängig zu gestalten und in Frieden und selbstbestimmt zu leben.
650 Millionen Menschen in extremer Armut
Trotz steigendem Wohlstand in großen Teilen der Welt leben viele Menschen nach wie vor unter prekären Lebensbedingungen. Afrika südlich der Sahara zählt zu den besonders betroffenen Weltregionen. Rund die Hälfte der Weltbevölkerung lebt von weniger als 5 Euro am Tag, und mehr als 650 Millionen Menschen leben aktuell in extremer Armut, also von weniger als 1,90 US Dollar pro Tag. Durch politische und wirtschaftliche Krisen, Naturkatastrophen im Zusammenhang mit dem Klimawandel sowie Folgen von Covid-19 werden diese Zahlen in den kommenden Jahren vermutlich steigen.
Kleinbäuerliche Haushalte schneller in Not
Mehr als 80 % der Kinder in den Projektregionen von World Vision leben in Familien, deren Lebensgrundlage die Landwirtschaft bildet. Kleinbäuerliche Haushalte sind in besonderem Maße angewiesen auf gesunde Umweltbedingungen, produktive und widerstandsfähige Anbausysteme sowie Zugang zu Märkten, Krediten und wesentlichen Produktionsmitteln. Oft sind mehrere dieser Faktoren nicht vorhanden oder bedroht. Anhaltende Armut in Verbindung mit Benachteiligung oder Konflikten, Naturkatastrophen und nicht zuletzt globalen Ereignissen wie Finanzkrisen oder die Corona-Pandemie gefährden die Existenzen von kleinbäuerlichen Familien. Wo Vermögen und soziale Sicherungssysteme fehlen, geht es schnell an die Substanz. Besonders Frauen und Kinder leiden unter den Folgen fragiler Ernährungs- und Lebensbedingungen. Häufig werden diese verstärkt durch geschlechterspezifische Nachteile beim Zugang zu Ressourcen innerhalb der Familie und Gemeinde.
Mangel an Ausbildung, Mangel an Arbeitsplätzen
Nachhaltigere Lebensgrundlagen - auch außerhalb der Landwirtschaft - zu fördern, ist unser Ziel. Viele Projektregionen in Afrika, Asien und dem Nahen Osten haben eine sehr junge Bevölkerungsstruktur. Gleichzeitig haben viele der Jugendlichen und jungen Erwachsenen große Probleme, ein regelmäßiges Einkommen zu erzielen. Für 2021 wird erwartet, dass jeder fünfte Jugendliche oder junge Erwachsene in Afrika weder einer offiziellen Arbeit nachgeht noch eine schulische oder berufliche Ausbildung macht, mit deutlich höheren Raten für junge Frauen (ILO 2020).
Lokale Arbeitsmärkte und Wirtschaftsstrukturen bieten in den meisten Ländern unserer Entwicklungszusammenarbeit nur wenige formale Beschäftigungsmöglichkeiten. Es gibt zwar auch Beispiele für erfolgreiche junge Start-Ups, aber viele Familien, speziell im städtischen Umfeld, sichern ihre Lebensgrundlage durch geringe und häufig unregelmäßige Einkommen aus informellen Tätigkeiten. Vielen Jugendlichen und jungen Erwachsenen fehlt es an relevanten Berufsqualifikationen, technischen Fähigkeiten und ausreichend Kapital, um eine formale Arbeit zu finden oder eine eigene Unternehmung zu gründen.
Flucht verstärkt Herausforderungen
Zudem waren trotz der Pandemie-Reisebeschränkungen noch nie so viele Menschen gezwungen, ihre Heimatorte aufgrund von Konflikten, Verfolgung und klimabedingten Extremwetterereignissen zu verlassen wie im Jahr 2021. In der Mehrzahl bleiben die Betroffenen innerhalb ihres eigenen Landes. Erzwungene Migration und das häufig damit verbundene Leben ohne solide Lebensgrundlage ist sehr belastend. Aber auch die aufnehmenden Gemeinden, die häufig selbst mit existentiellen Problemen zu kämpfen haben, geraten dadurch verstärkt unter Druck. Die größte Herausforderung liegt darin, die Geflüchteten wirtschaftlich und sozial in die aufnehmenden Gemeinden zu integrieren. World Vision unterstützt diese Prozesse, besonders in aktuellen Konflikt- und Krisenkontexten.
Internationale Ziele des Livelihoods-Sektors
Unter Führung der Vereinten Nationen (UN) hat die internationale Weltgemeinschaft 2016 die sogenannten Nachhaltigkeitsziele (Sustainable Development Goals, kurz SDGs) verabschiedet. Damit wurde ein übergeordneter Rahmen für die nationale und internationale Entwicklungspolitik sowie die Arbeit von Entwicklungsakteuren geschaffen. World Vision fördert und fordert die Umsetzung der SDGs bis 2030 durch Projekte und politische Arbeit.
Im Rahmen der Förderung nachhaltiger Lebensgrundlagen (Livelihoods) unterstützt World Vision eine Reihe dieser international vereinbarten Entwicklungszielen, darunter vor allem:
- SDG 1: Armut in all seinen Formen und überall beenden
- SDG 2: Hunger beenden, Ernährungssicherheit und eine bessere Ernährung erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft fördern
- SDG 5: Geschlechtergleichstellung erreichen und alle Frauen und Mädchen zur Selbstbestimmung befähigen
- SDG 8: Dauerhaftes, breitenwirksames und nachhaltiges Wirtschaftswachstum, produktive Vollbeschäftigung und menschenwürdige Arbeit für alle fördern
- SDG 10: Ungleichheit reduzieren durch Einkommenssteigerungen von armen Bevölkerungsgruppen in wirtschaftsschwachen Ländern
- SDG 13: Umgehend Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels und seiner Auswirkungen ergreifen
World Vision will bis 2030 und darüber hinaus signifikant dazu beitragen, die oben genannten Nachhaltigkeitsziele zu erreichen. Bis 2030 sollen beispielsweise alle Kinder und ihre Familien in den Projekten sicheren und permanenten Zugang zu gesunder Nahrung haben, das Einkommen der ärmsten 40 % der Menschen deutlich gesteigert werden und die Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit (Resilienz) gegenüber Katastrophen und Schocks gestärkt werden.
Die Entwicklung und das Wohlergehen von Kindern sind untrennbar mit gesunden Ökosystemen und sicheren und klimaresilienten Lebensgrundlagen der Familien und Gemeinschaften verbunden
Unsere Schwerpunkte und Ansätze
Um den Aufbau nachhaltiger Lebensgrundlagen für die ärmsten und bedürftigsten Personen, Familien und Gemeinden zu fördern, arbeitet World Vision mit bewährten sowie mit neueren Ansätzen. Sie unterstützen die Zielgruppen besonders auf Haushalts- und Gemeinde-Ebene in den Bereichen Wirtschaftsförderung, Ernährungssicherung und nachhaltige Landwirtschaft, Klimaanpassung und Umweltschutz, Berufsbildung, Mikrofinanzen und soziale Integration. In der Zusammenarbeit mit den Zielgruppen ist es uns wichtig, ihre Selbstbestimmung und Eigenverantwortung zu stärken. So sollen auch über die Zeit der Projekte und Maßnahmen hinaus wirkungsvolle Strukturen geschaffen werden.
Die wichtigsten World Vision-Ansätze für nachhaltige Lebensgrundlagen sind:
1. Ultra-Poor Graduation (UPG):
Der Ansatz wurde speziell für Personen und Familien in extremer Armut entwickelt, die entweder keinen oder nur unregelmäßigen Zugang zu Einkommen und existenziellen Versorgungsleistungen haben (z.B. Nahrung, Medizin) und darüber hinaus besonders anfällig für soziale Ausgrenzung, Gewalt und psychische Probleme sind. UPG verbindet Maßnahmen zur Sicherung der Grundbedürfnisse (z.B. Versorgung mit Nahrungsmitteln) mit Hilfen zur wirtschaftlichen und sozialen Eingliederung und dem Schutz vor Gewalt. Angestrebt wird außerdem eine Stärkung das Selbstbewusstseins, das häufig unter Bedingungen extremer Armut leidet und doch essentiell ist, um nachhaltige Lebensgrundlagen aufzubauen.
Weitere Informationen zum UPG-Ansatz: pdf öffnen
2. Building Secure Livelihoods (BSL):
Der BSL-Ansatz richtet sich an Gemeinden, Familien und Menschen, die unmittelbar von Armut bedroht sind und deren ökologische, ökonomische und soziale Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit (z.B. an extreme Wetterereignisse, politische Konflikte, wirtschaftliche Veränderungen) gering ist. BSL kombiniert verschiedene Maßnahmen, um die Lebensgrundlagen und die Resilienz armutsbedrohter Familien und Menschen zu stärken, besonders von Frauen in Familien mit kleinen Kindern und Jugendlichen. Dazu zählen zum Beispiel:
- Schutz und schonender Umgang mit natürlichen Ressourcen (Klima, Boden, Wasser)
- Aufbau nachhaltiger, klimarobuster und profitabler Landwirtschaftssysteme (nach agrarökologischen Prinzipien)
- Ernährungssicherung
- Entwicklung lokaler und inklusiver Wertschöpfungsketten und Marktsysteme
- Etablierung von Spargruppen auf Gemeindeebene (siehe S4T-Konzept)
- Stärkung der Resilienz (Anpassungs- und Widerstandsfähigkeit) in Gemeinden und Haushalten
- Lokale Wirtschaftsförderung und Berufsbildung (insbesondere von jungen Erwachsenen)
- Stärkung des Selbstwertgefühls und der Einstellungen (Abkehr von Abhängigkeitsdenken)
Weitere Informationen zum BSL-Ansatz: pdf öffnen
Unter BSL werden aktuell folgende Konzepte umgesetzt:
Farmer Managed Natural Regeneration (FMNR): Wiederbegrünung degradierter Agrar-, Weide- und Waldflächen durch den Schutz und die Pflege bestehender Baumvegetation (alternativ zu neuen Baumpflanzungen). Durch FMNR werden Umweltbedingungen (Klima, Boden, Wasser) nachhaltig verbessert, Konflikte über natürliche Ressourcen reduziert und die Basis für eine verbesserte landwirtschaftliche Produktion und höhere Ernten geschaffen.
Weitere Informationen, wie FMNR funktioniert und wie es angewendet werden kann.
Local Value Chain Development (LVDC): Marktorientierter Ansatz mit dem Ziel, kleinbäuerliche Produzenten und Produzentengruppen stärker in lokale Wertschöpfungsketten zu integrieren und ihren Zugang zu Märkten und Prozessschritten entlang der gesamten Kette zu verbessern (z.B. Beschaffungs-/Absatzmärkte, Verarbeitung von Ernten/Rohstoffen). So werden zusätzliche Einkommensmöglichkeiten für Produzenten und die lokale Bevölkerung geschaffen, Impulse für Produktivitätssteigerungen gesetzt und sichergestellt, dass ein möglichst großer Teil der Wertschöpfung und des Konsums in der Region verbleibt.
Community-Based Disaster Risk Management (CBDRM): Ansatz zum Aufbau von Strukturen auf Gemeindeebene zur Vorsorge und zum Management von Katastrophen und Krisen (z.B. Naturkatastrophen). Unter CBDRM entwickeln Gemeinden unter anderem Risikopläne, Strategien im Umgang mit den identifizierten Risiken und Frühwarnsysteme. Dadurch bauen sie Kapazitäten auf, um sich besser vor Katastrophen schützen, im Ernstfall angemessen reagieren zu können und so den Schaden zu minimieren.
Savings for Transformation (S4T): Über angeleitete Spargruppen (ca. 20-25 Personen pro Gruppe) erhalten arme und benachteiligte Familien ohne Zugang zu formalen Finanzinstituten und -dienstleistungen Spar- und Kreditmöglichkeiten. Der Nutzen für die Gruppenmitglieder ist vielfältig, denn sie erhalten eine Grundbildung in Finanzmanagement, können auch ohne Sparkonto über die Zeit ein kleines Polster ansparen und sich für Investitionen und in Notfällen Geld leihen. Spargruppen dienen als soziales Sicherungssystem und fördern die wirtschaftliche Entwicklung armer Familien.
Empowered World View (EWV): Häufig führt anhaltende Armut zu einem verminderten Selbstwertgefühl und dem Gefühl von Abhängigkeit. Ziel des EWV-Ansatzes ist es, diese oft entwicklungshemmenden Denkweisen und Haltungen zu durchbrechen und einen Transformationsprozess hin zu einem gestärkten Selbstwertgefühl und zu positiven Einstellungen bzw. Erfahrungen mit umgesetzten Veränderungen zu fördern und zu begleiten.
Women’s Economic Empowerment (WEE): Wenn Frauen einen stabilen finanziellen Beitrag zum Haushalt leisten können, steigen die Investitionen in die Gesundheit und Bildung der Kinder. World Vision verfolgt einen holistischen Ansatz, der den wirtschaftlichen Aufstieg von Frauen, ihren Zugang zu Möglichkeiten, Dienstleistungen und Ressourcen sowie ihre Selbstbestimmung fördert, einschließlich ihrer Entscheidungsbefugnis in Haushalten und auf Märkten, ihrer überschaubaren bezahlten und unbezahlten Arbeitsbelastung und ihres Wohlbefindens. Und schließlich fördert World Vision gerechte Systeme, in denen Frauen von einer gerechten Politik, Gesetzgebung, institutionellen Praktiken und sozialen Normen profitieren können.
3. Microfinance (Mikrofinanzen):
Der Großteil der Bevölkerung in unseren Partnerländern hat keinen Zugang zu formalen Finanzdienstleistungen (z.B. Krediten, Versicherungen). Die meisten Menschen verfügen weder über ein eigenes Konto noch erfüllen sie die Voraussetzungen, um einen Kredit aufzunehmen oder eine Versicherung abzuschließen. Gleichzeitig sind es häufig fehlende finanzielle Überbrückungsmöglichkeiten in Krisenzeiten, kleine finanzielle Hürden für produktive Investitionen (z.B. Gründung einer Unternehmung, Kauf von Betriebsmitteln wie Saatgut, Maschinen) und die fehlende Absicherung vor Risiken (z.B. Ernteausfälle), die vulnerablen Gemeinden und Familien beim Aufbau nachhaltiger Lebensgrundlagen hemmen. Durch Mikrofinanz-Angebote können Personen und Gruppen (bspw. Produzentengruppen) Kredite aufnehmen und andere Finanzprodukte nutzen. Dies geschieht in Zusammenarbeit mit Vision Fund (VF), dem Finanzdienstleister von World Vision, der für die Umsetzung des Ansatzes verantwortlich ist.