Von den Hungrigen nehmen, um es den Verhungernden zu geben?

Ein World Vision Bericht zum Weltflüchtlingstag

Zum vierten Mal befragte World Vision Familien auf der Flucht zu ihrer Lebenssituation. Der World Vision Bericht in diesem Jahr stellt das Thema Hunger in den Fokus. Die Zahl der Menschen in Not wächst beständig. Das bedeutet, dass Nahrungsmittelrationen für Menschen, die in Not sind, gekürzt werden. Das hat massive Auswirkungen auf geflüchtete Kinder, Familien und Gemeinschaften. 

Der Bericht kombiniert Sekundärforschung mit der Befragung von Familien in sechs Ländern, in denen World Vision tätig ist: Afghanistan, Cox's Bazar in Bangladesch, in der Demokratischen Republik Kongo (DRC), Libanon, Somalia und Uganda. Geflüchtete Menschen wurden dazu befragt, wie sie von Lebensmittelrationenkürzungen betroffen sind.

Dies ist die deutsche Zusammenfassung der wichtigsten Aussagen des Berichts. Den vollständigen Bericht in englischer Sprache gibt es hier zum Download.

Kürzungen von Essensrationen in Fluchtsituationen

Klimawandel, Konflikte und COVID-19 haben die größte Hungerkrise unserer Zeit ausgelöst und beschleunigt. In über 39 Ländern haben Kinder nicht ausreichend zu essen oder sind von akuter Hungersnot bedroht. Durch regionale Konflikte und extreme Wetterereignisse werden Familien gezwungen, ihre Heimat zu verlassen, wodurch das Leben der Kinder noch mehr gefährdet wird - Hunger, Unterernährung, Kinderarbeit, sexuelle Ausbeutung und Kinderverheiratung nehmen zu und berauben Kinder ihrer Rechte. Obwohl die internationale Katastrophenhilfe in den letzten Jahren zugenommen hat, reicht dies längst nicht aus, um mit der ständig wachsenden Zahl der Menschen in Not gerecht werden zu können.

Ich habe das Gefühl, dass ich in den Südsudan zurückkehren sollte. Es ist besser in meinem eigenen Land zu sterben, als im Lager zu verhungern.
geflüchteter Mann aus Uganda

Mittel gehen zurück - die Zahl der hilfsbedürftigen Menschen steigt

Im letzten Jahr versorgte World Vision über 20 Millionen Menschen in 46 Ländern mit Nahrungsmitteln und Bargeld. Davon wurden mehr als 16 Millionen Menschen in 29 Ländern in Zusammenarbeit mit dem Welternährungsprogramm (WFP) der Vereinten Nationen erreicht. Angesichts ständig sinkender Mittel bei einer kontinuierlich steigenden Zahl an hilfsbedürftigen Menschen sind die humanitären Organisationen jedoch immer mehr unter Druck, schwerwiegende und nahezu unmögliche Entscheidungen zu treffen

Für den vorliegenden Bericht sprach World Vision Projektpartnerinnen und  -partner in sechs Ländern, die von den Mittelkürzungen und den jüngsten Einschnitten bei der Nahrungsmittel- und Bargeldhilfe betroffen sind. In diesen Ländern wird die Nahrungsmittelhilfe am dringendsten benötigt und dennoch mussten humanitäre Organisationen mangels ausreichender Mittel ihre Nothilfe einschränken, indem sie Essensrationen kürzten oder ihre Hilfe ganz einstellten. Am härtesten treffen diese drastischen Hilfseinschränkungen Kinder und ihre Familien, die ohnehin schon gefährdet sind, wie in Flüchtlingslagern, Dorfgemeinschaften in schwierigen politischen Kontexten oder die von klimabedingten Dürren betroffen sind. Im Rahmen unserer Befragung gaben viele Eltern an, dass die Kürzungen der Essensrationen und der anhaltende Hunger zu einem starken Anstieg von Unterernährung, Gewalt, Kinderheirat, Kinderarbeit und sexueller Ausbeutung geführt haben. 

World Vision Hilfe gegen Hunger

Die Ergebnisse des World Vision Berichts sind alarmierend

Der Hunger nimmt zu

  • Während die Kinder vor den Kürzungen der Essensrationen durchschnittlich noch zwei Mahlzeiten pro Tag zu sich nahmen, berichtete ein Großteil der Familien im Januar 2024, dass sie nach den Kürzungen nur eine oder gar keine Mahlzeit am Vortag zu sich genommen hatten. 
  • Viele der befragten Eltern beklagen, dass infolge der Kürzungen Hunger und Unterernährung zugenommen haben. 
  • Flüchtlings- und vertriebene Familien müssen wiederholt umsiedeln und aufgrund von Gewalt oder Dürre ihre Heimat verlassen, wobei sie oft Vieh, Arbeitsplätze und Besitztümer zurückließen. 
  • Der Versuch, genug Essen für ihre Kinder zu kaufen, geht oft zu Lasten anderer Notwendigkeiten wie Schule und Gesundheitsversorgung
  • Die Mehrheit der befragten Familien berichtet zudem von einem Anstieg der Gesundheitsprobleme, weil das Geld fehle, um ihre Kinder zur nächstgelegenen Gesundheitsstation zu bringen oder um dringend benötigte Medizin zu kaufen. 
  • Mehr als die Hälfte der Flüchtlingseltern bestätigt, dass nicht nur sie selbst, sondern auch ihre Nachbarn die Schulkosten nicht mehr bezahlen können oder dass Kinder die Schule abbrechen müssten, um zu betteln oder zu arbeiten. 
  • Andere berichteten, dass sie die Ausgaben für sauberes Wasser oder Hygieneprodukte reduzieren, um genug Essen für die Familie kaufen zu können. 
World Vision Bericht Weltflüchtlingstag - Infokachel 1
World Vision Bericht Weltflüchtlingstag - Infokachel 2
World Vision Bericht Weltflüchtlingstag - Infokachel 3
World Vision Bericht Weltflüchtlingstag - Infokachel 4
World Vision Bericht Weltflüchtlingstag - Infokachel 5
World Vision Bericht Weltflüchtlingstag - Infokachel 6
World Vision Bericht Weltflüchtlingstag - Infokachel 7
World Vision Bericht Weltflüchtlingstag - Infokachel 8
World Vision Bericht Weltflüchtlingstag - Infokachel 9
Die erste Auswirkung [der Essensrationierung] ist, dass wir sehr viel Druck von unseren Familien bekommen – besonders in unserem Alter. In unserem Dorf werden nun viele von uns sehr früh verheiratet. Manchmal sieht man uns sogar als Belastung für die Familie.
Mädchen (13-17 Jahre) aus der Demokratischen Republik Kongo

Die Gefahr von Gewalt gegen Kinder nimmt zu

Neben der akuten Unterernährung gehört zu den beunruhigenden Ergebnissen der Befragung die Einschätzung der Betroffenen, dass ihre Kinder durch die Hunger- und Wirtschaftskrise auch einem höheren Risiko von Kinderheirat, sexueller Gewalt, Kinderarbeit und Kinderhandel ausgesetzt sind. In Fokusgruppen in Badghis, Afghanistan, und im Bidi Bidi-Flüchtlingslager in Uganda berichteten Mädchen, dass Gleichaltrige zwangsverheiratet wurden, in der Hoffnung, dass ihre neuen Ehemänner sie ernähren würden. Im Bidi Bidi-Flüchtlingslager wurden Mädchen gezwungen, mit wesentlich älteren Männern eine Beziehung einzugehen. Generell sprachen viele Befragte von einem erhöhten Maß an häuslicher Gewalt, einschließlich sexueller Gewalt gegen Frauen und Mädchen. Auch Jungen waren vermehrt Gewalterfahrungen ausgesetzt. Die Gemeindemitglieder gaben an, dass Jungen zunehmend arbeiteten und dadurch Gefahr liefen, an Menschenhändler verkauft oder weggeschickt zu werden.  

In den gefährdeten Gemeinschaften hungern die Kinder oftmals oder sind unterernährt. Sie gehen nicht zur Schule und müssen zunehmend unterschiedliche Formen von Gewalt erleben. So überrascht es nicht, dass Kinder und Erwachsene von immensem Stress und psychischer Belastung berichten, während sie versuchen, ihre Familien zu unterstützen. Im Bidi Bidi Lager sprachen sowohl Erwachsene als auch Kinder zunehmend von Selbstmordgedanken und -absichten. In Afghanistan, Libanon und Somalia ließen die Antworten von Betreuungspersonen auf Fragen zur psychischen Gesundheit darauf schließen, dass die Kinder ein hohes Risko haben, auch verglichen mit anderen konfliktbetroffenen Gemeinschaften. Dies kann unter anderem mit der zunehmend unsicheren Ernährungslage zusammenhängen, was negative Auswirkungen auf elterlichen Stress, Angstzustände, Depressionen und die Ängste der Kinder hat. 

Eltern haben aus Stress und Verzweiflung Selbstmord begangen, weil sie nicht in der Lage waren, die Kinder zu ernähren.
Weibliche Betreuerin aus Uganda

Kürzungen der Essensrationen werden 2024 weiter zunehmen

Insgesamt zeichnen die Ergebnisse der Befragung ein düsteres Bild. Das ist auch deswegen sehr besorgniserregend, da die Kürzungen der Essensrationen im Jahr 2024 voraussichtlich sogar noch weiter zunehmen werden. Unsere Ergebnisse zeigen, dass die Auswirkungen von Rationskürzungen inmitten einer globalen Hungerkrise weit über Einzelschicksale hinausgehen und viele Familien und Gemeinschaften betreffen. Dies hat für die Kinder auch Folgen beim Zugang zu Bildung, Gesundheitsversorgung und Schutz. Es ist daher essenziell, dass Regierungen und Geber von humanitärer Hilfe stärker zusammenwirken, um lebensrettende Nahrungsmittelhilfen in ausreichendem Umfang und mit ausgewogenem Nährstoffgehalt zu mobilisieren, damit Kinder und ihre Familien die dringend benötigte Hilfe bekommen, um zu überleben. Darüber hinaus ist langfristige Unterstützung notwendig, damit Kinder wieder zur Schule gehen können und Familien nachhaltige Lebensgrundlagen erlangen können.

Es ist höchste Zeit, dass die Welt GENUG sagt: Genug vom Hunger. Genug von Unterernährung. Kinder sterben bereits jetzt an den vermeidbaren Ursachen, die mit Hunger und Unterernährung zusammenhängen - der Bedarf ist hoch und dringend. Nothilfemaßnahme müssen ausreichend verfügbar sein und Nahrungsmittel den benötigten Nährstoffbedarf abdecken, damit Kinder rechtzeitig und ausreichend versorgt werden können 

Schlussfolgerungen des World Vision Berichts

Die Ursachen für Hunger, Unterernährung und Ernährungsunsicherheit sind nicht weniger geworden, sondern haben sich in vielen Ländern weiter verschlimmert. Die Anzahl der Menschen, die nicht genügend zu essen haben, steigt an. Die Nahrungsmittelhilfe und die dafür bereitgestellten finanziellen Mittel reichen bei weitem nicht aus und decken nicht annähernd den Bedarf. Wenn die internationale Gemeinschaft nicht schnell und entschieden handelt, werden Millionen Menschen, darunter auch viele Kinder, in akute Hungersnot geraten. Als eine direkte Folge von akutem Hunger haben diese Kinder dann ein sehr geschwächtes Immunsystem, was sie extrem anfällig für Krankheiten wie Durchfall und Lungenentzündung werden lässt. Kinder, die akuten Hunger überleben, werden sehr wahrscheinlich langfristig, oft ein Leben lang an den Folgen von chronischem Hunger und Unterernährung leiden. Denn chronisch unterernährte Kinder haben oftmals Wachstumsverzögerungen und kognitive Beeinträchtigungen. Dies beeinträchtigt ihre Lernfähigkeit und später, im Erwachsenenalter, ihre beruflichen Fähigkeiten und mindert ihre wirtschaftliche Produktivität.

Die Auswirkungen der Hungerkrise werden weit über den Einzelnen oder die Gemeinschaft hinausgehen. Wenn nicht entschlossen gehandelt wird, wird es zu mehr Migration, gesellschaftlicher Destabilisierung und weiteren Konflikten kommen.  

Basierend auf der Analyse dieses Berichts folgt hier eine Zusammenfassung der Ergebnisse:

  • Schnelles und gemeinsames globales Handeln:

    Schnelle Humanitäre Nahrungsmittelhilfe ist für viele gefährdete und ernährungsunsichere Familien lebensrettend. Aktuell ist es jedoch I traurige Realität, dass Hilfsorganisationen die Essensrationen wegen schrumpfender Budgets in vielen Bereichen kürzen müssen. Das führt dazu, dass bedürftige Familien auf negative Bewältigungsstrategien zurückzugreifen, wie beispielsweise Einsparungen bei Schulkindern, was ihre ohnehin schon bestehenden Verwundbarkeiten noch weiter verstärkt. Unzureichende Finanzierung und die daraus resultierenden Kürzungen von Essensrationen führen zu einem Teufelskreis, der nur durch schnelles und gemeinsames globales Handeln durchbrochen werden kann.

  • Klare Leitlinien für Obergrenze der Kürzungen von Essensrationen:

    Auch wenn aufgrund mangelnder Mittel Kürzungen von Essensrationen in einigen Fällen unvermeidbar sein mögen, fordert World Vision, dass Geber und humanitäre Akteure klare Leitlinien für Obergrenzen solcher Kürzungen festlegen, um eine ausreichende Kalorienzufuhr für Jede und Jeden zu gewährleisten. Kinder, die als erstes unter den Rationskürzungen leiden, müssen priorisiert werden.  

  • Kontexte müssen berücksichtigt werden:

    Die Gründe und Prozesse, die zu Hunger und Ernährungssicherheit führen, sind komplex. Es müssen daher die politischen, geschlechtsspezifischen, sozialen und kulturellen Kontexte berücksichtigt werden. Frauen und Kinder, insbesondere Mädchen, sind oft am stärksten betroffen. Sie erfahren den geringsten Schutz und sind am anfälligsten gegenüber den Risiken, die aufgrund von Hunger, Ernährungsunsicherheit und langanhaltenden Entbehrungen bestehen. Vor allem Mädchen sind benachteiligt und oftmals geschlechtsspezifischer Diskriminierung ausgesetzt.  

  • Ernährungskrise leistet psychischen Erkrankungen Vorschub:

    Chronische Unterernährung ist nicht nur verbunden mit einem unzureichenden Zugang zu nährstoffreicher Nahrung, sondern auch mit Ungleichheit und Vertreibung und hat zudem auch gravierende Auswirkungen auf die psychische Gesundheit von Kindern und Familien. Sie beeinflusst das Stressniveau, die emotionale Stabilität, die kognitiven Fähigkeiten und das allgemeine psychisches Wohlbefinden. Frühere Forschungsergebnisse haben bereits belegt, dass Ernährungsunsicherheit mit einer erhöhten Häufigkeit von Suizidgedanken und Suizidversuchen verbunden ist. Wenn nichts dagegen getan wird, könnte die derzeitige Ernährungskrise dazu führen, dass viele gefährdete Kinder und ihre Bezugspersonen massiv Gefahr laufen psychische Störungen wie Angst und Depression zu entwickeln.

  • Bildung leidet unter den Kürzungen der Essensrationen:

    Die Kürzung der Essensrationen wirkt sich auch negativ auf die Bildung vertriebener Kinder aus. Die Beeinträchtigungen sind je nach Geschlecht, Behinderung und Vertreibungsstatus unterschiedlich. Leider sind dabei Mädchen besonders stark benachteiligt. Die Einschulungsrate und auch die Teilnahme am Unterricht sind zurückgegangen. Bei den Kindern, die weiterhin zur Schule gehen können, beeinträchtigt der Hunger ihre Konzentrationsfähigkeit und sie haben größere Schwierigkeiten, aufmerksam zu bleiben. Es fällt ihnen schwerer, Informationen zu behalten und aktiv am Unterricht teilzunehmen. Das wirkt sich unmittelbar auf ihre Lernergebnisse aus und mittelbar auf ihren künftigen Werdegang und unterstreicht die Notwendigkeit von Schulernährungsprogrammen. Jeder in Schulmahlzeiten investierte Dollar erwirtschaftet laut dem Welternährungsprogramm (WFP) einen Nutzen von neun Dollar.

  • Unterernährung erhöht Geschlechterungleichheit:

    Unterernährung erhöht das Problem der Geschlechterungleichheit, und gekürzte Essensrationen verstärkt es noch weiter.  Schwangere und stillende Frauen sowie Kleinkinder sind überproportional betroffen. Die Ernährung von Müttern und Kindern in den ersten 1.000 Tagen – von der Empfängnis bis zum Alter von zwei Jahren – muss bei allen humanitären Maßnahmen und in der Arbeit nationaler Gesundheitssysteme prioritär behandelt werden. Besonderes Augenmerk muss auf die Unterstützung stillender Mütter gelegt werden. Außerdem muss sichergestellt werden, dass Kinder im Alter von 6 bis 23 Monaten die notwendige Beikost erhalten, um vor den lebenslangen Folgen von Mangelernährung geschützt zu sein.

  • Gefahr der Gewalt gegen Kinder steigt:

    Die Kürzungen der Essensrationen erhöhen zudem das Risiko für Kinderheirat, Kinderarbeit, sexueller Gewalt und Ausbeutung. Hierbei besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Geschlecht, Behinderung und Vertreibungsstatus sowie einer erhöhten Gefahr von Hunger. So werden notgedrungen Jungen zur Gelegenheitsarbeit geschickt und müssen die Schule abrechen.  

  • Früh- und Zwangsverheiratungen nehmen zu:

    Die Gewalt und der Missbrauch, denen Frauen und Mädchen innerhalb der Familie und der Gemeinschaft ausgesetzt sind, haben belegbar zugenommen. Kinder-, Früh- und Zwangsverheiratungen hat es zwar auch schon zuvor gegeben, jedoch hat die Zahl der Fälle als eine Form von Hungerbewältigung deutlich zugenommen. Dies ist aus Gründen des Kinderschutzes hochgradig alarmierend, und auch aufgrund der Tatsache, dass sich in der nahen Zukunft die Risiken für gefährliche Schwangerschaften und schwer verlaufende Geburten aufgrund der gesundheitlichen Langzeitfolgen von Mangelernährung erhöhen. In Bidi Bidi in Uganda berichten viele Familien, dass sie sich gezwungen sahen, transaktionalen Sex als Mittel zu nutzen, um die Auswirkungen von Rationierungskürzungen und Ernährungsunsicherheit zu mildern. 

Die gegenwärtige Ernährungskrise zu beenden und Menschen vor dem Hungertod zu bewahren, ist möglich.  Jedoch braucht es dafür politischen Willen, eine umfassende Bereitschaft zur Rechenschaftspflicht und die Stärkung von Resilienz. Notwendig sind außerdem die ausreichende Finanzierung humanitärer Aktionspläne sowie Ansätze zur Förderung des humanitären Entwicklungs- und Friedensaufbaus, um die grundlegenden Ursachen und Treiber der Hungerkrise anzugehen. 

Geflüchtete aus DRC

Ornella und ihre Mutter Furaha leben in einem Lager für Binnenflüchtlinge in Nord-Kivu, DRK. ©World Vision/Rodrigue Harakandi

Geflüchtete aus Uganda

Eine Familie kommt von einer Lebensmittelverteilung in der Bidi Bidi-Flüchtlingssiedlung in Uganda nach Hause. ©World Vision/Brian Jakisa Mungu

Geflüchtete aus Somalia

Fidow, 29, ist eine Witwe und Mutter von acht Kindern aus Dinsoor, Somalia. Ihre Familie zog aufgrund einer schweren Dürre nach Doolow um und verkaufte ihr Land, um sich den Umzug leisten zu können. ©World Vision/Gwayi Patrick

Handlungsempfehlungen

Millionen Mädchen, Jungen und ihre Familien sind in höchstem Maße gefährdet und von Hungersnot bedroht. Es muss dringend etwas passieren, um in den am stärksten betroffenen Regionen und Kontexten vor allem bei Kindern Hungerstode und langfristige gesundheitsschädliche Folgen zu vermeiden.    

  • Essenziell ist dabei, umgehend die bestehende Finanzierungslücke für Nahrungsmittelhilfe zu schließen. Regierungsverantwortliche und Akteure der Gebergemeinschaft müssen entschlossen handeln und ES REICHT zu noch mehr Hunger und Elend sagen. Vor allem müssen nun schnell Maßnahmen ergriffen werden in Regionen, wo Menschen von Konflikt und Vertreibung betroffen und dadurch besonders gefährdet sind. 
  • Wichtig dabei ist ein ganzheitliches und gut koordiniertes Vorgehen. Sowohl bei der Beendigung der aktuellen Hungerkrise als auch bei der Transformation der Ernährungssysteme. Schnelle humanitäre Maßnahmen müssen einhergehen mit vorhersehbaren und verlässlichen Mitteln für einen längerfristigen Systemwandel. Es gilt, Gesundheits-, Ernährungs- und Sozialschutzsysteme so zu entwickeln, dass sie Leben retten, krisen- und klimaresilient sowie gerecht und für jeden zugänglich sind, und sich an zukünftige Herausforderungen anpassen können.
  • Wichtig ist zudem, dass zivilgesellschaftliche Akteure, Betroffene, Vulnerable sowie Kinder eine Stimme bekommen und gehört werden und sich bei wichtigen politischen Entscheidungen einbringen können. Kinder sind wirkmächtige Akteure für den notwendigen Wandel. Sie haben nicht nur ein Recht auf Nahrung, ein Recht auf Sicherheit und auch das Recht auf Beteiligung. Regierungen und alle beteiligten Stakeholder sollten offen sein für den Einfluss von Kindern, und sie bei wichtigen Prozessen und Strategieentwicklungen konsultieren. Regierungen, auch Nichtregierungsorganisationen, religiöse und kommunale Führungspersonen, Eltern sowie Betreuerinnen und Betreuer sollten die Beteiligung von Kindern einfordern und unterstützen und ihre Ideen für Veränderungen verstärken. 

World Vision ruft Geber auf:

  • vorausfinanzierte, flexible und nicht-zweckgebundene Mittel bereitzustellen, damit Millionen Menschen vor dem Hungertod bewahrt werden können, 
  • die Finanzierung von geschlechtsspezifischen Programmen in den Bereichen Ernährung, Bildung, Kinderschutz, psychische Gesundheit, Unterstützung des Lebensunterhalts und Schulspeisung zu ermöglichen, 
  • in vorausschauende Maßnahmen und humanitäre, entwicklungspolitische und friedensfördernde Konzepte zu investieren, um die Ursachen von Hunger- und Unterernährung zu bekämpfen. 

World Vision ruft nationale Regierungen auf:

  • sicherzustellen, dass jedes Kind, unabhängig von seinem Wohnort oder seiner Lebenssituation, ausreichend nährstoffreiche Nahrung erhält.
  • die Bekämpfung von Hunger zu priorisieren, indem: 

    → ausreichend Budget bereitgestellt wird, damit betroffene zwangsvertriebene Familien den Ernährungsbedarf ihrer Kinder decken können.

    → mehr Programme für Schulspeisungen aufgelegt werden, um die Bedürftigsten und Vulnerabelsten zu erreichen. Dabei sollten lokale, nachhaltige und von indigenen Produzenten erzeugte sowie qualitativ hochwertige Nahrungsmittel priorisiert werden. So kann sichergestellt werden, dass Kinder in der Schule bleiben, Kinderschutz verstärkt wird und sich ihre psychische Gesundheit und ihr Bildungsstandard verbessert.

    → integrierte Gesundheits- und Ernährungsdienste für alle Lernenden angeboten werden.

    → Die Zivilgesellschaft, Entwicklungs- und humanitäre Organisationen sowie der private Sektor zu nutzen, um umfassende und qualitativ hochwertige Ernährungsdienste für Frauen und Kinder bereitzustellen. Mädchen bedürfen hierfür aufgrund ihrer hohen Verletzlichkeit besonderer Berücksichtigung.

    → die Anzahl von Gemeindegesundheitsarbeitern (community health workers) wesentlich zu verbessern und dem tatsächlichen nationalen Bedarf anzupassen, insbesondere in armen und abgelegenen Gebieten. Dadurch können Gesundheitsdienstleistungen wie Wachstumsüberwachung, Ernährungsberatung und Vitamingaben verbessert werden.

  • sicherzustellen, dass nationale Gesundheits- und Sozialschutzsysteme:

    → kinder- und geschlechtergerecht sind

    → klare Richtlinien für maximale Kürzungen von Nahrungsmittelrationen definieren und durchsetzen. So kann dafür Sorge getragen werden, dass von Ernährungsunsicherheit bedrohte Menschen insbesondere Kinder, Frauen und Menschen mit Behinderungen eine ausreichende Kalorienaufnahme durch qualitativ hochwertige Lebensmittel erhalten.

  • sicherzustellen, dass zwangsvertriebene Kinder Zugang zu qualitativ hochwertiger und inklusiver Bildung haben,
  • Kinderschutzsysteme so zu stärken, dass Gewalt und Ausbeutung von Mädchen und Jungen effektiv verhindert werden kann,
  • Hunger, Ernährungssicherheit und Ernährung auf der politischen Agenda zu priorisieren, indem nationale Strategien an internationale Rahmenwerke angepasst werden, wie zum Beispiel: 

    → Anstreben des Sustainable Development Goals Nr. 2 (SDGs/Ziele für nachhaltige Entwicklung), das darauf abzielt, Hunger zu beenden, Ernährungssicherheit und verbesserte Ernährung zu erreichen und eine nachhaltige Landwirtschaft zu fördern.

    → Die Umsetzung der Resolution 2417 des UN- Sicherheitsrates, die die Zusammenhänge zwischen Konflikt und Ernährungsunsicherheit feststellt, den Zugang zu humanitärer Hilfe von Menschen in Nahrungsmittelkrisen fordert, und die Ursachen von konfliktspezifischer Ernährungsunsicherheit anspricht.

    → Die Umsetzung des Rechts auf Nahrung gemäß der „Freiwilligen Leitlinien zum Recht auf Nahrung der FAO“ durch die Erstellung nationaler Ernährungspläne.

    → Die Priorisierung von Kleinbäuerinnen und Kleinbauern, damit sie einen verbesserten Zugang zu lokalen Märkten erhalten.

  • mit bestehenden regionale Organisationen wie der Afrikanischen Union und der Wirtschaftsgemeinschaft der westafrikanischen Staaten ECOWAS zu kooperieren, um politische Maßnahmen und Resolutionen zur Ernährungssicherheit und zur Bekämpfung von durch Konflikte verursachtem Hunger voranzutreiben. 

World Vision ruft humanitäre Hilfsorganisationen auf:

  • sicherzustellen, dass Ernährungsprogramme die Bedürftigsten und Vulnerabelsten erreichen, insbesondere Kinder, Frauen und Menschen mit Behinderungen.
  • den Schutz von Kindern bei allen humanitären Maßnahmen zu priorisieren, indem

    → alters- und geschlechtsspezifische Daten bei humanitären und schnellen Kontextanalysen (“rapid assessments”) erhoben werden, um Hilfsmaßnahmen gezielter planen und koordinieren und besser darüber informieren zu können.

    → sichergestellt wird, dass Kinder und junge Menschen, ihre Familien sowie Betreuerinnen und Betreuer bei allen Belangen mit in die Entscheidungsfindung einbezogen werden.

    → Kinderschutz und der Schutz vor geschlechtsspezifischer Gewalt in Ernährungsprogramme integriert werden, um Schutzmechanismen zu stärken und Schäden zu vermeiden. Dazu müssen Programme so entwickelt, umgesetzt und überwacht werden, dass negative Bewältigungsstrategien, die häufig aus Ernährungsunsicherheit entstehen, minimiert beziehungsweise verhindert werden (siehe oben).

    → gemeindebasierte, multidisziplinäre und multisektorale Teams und Interventionen ausgeweitet werden, um früh die psychosoziale Unterstützung (MHPSS) bei Kindern und ihren Betreuern zu fördern.

    → kinderspezifische Sektorpläne (z. B. Schutz, Bildung, Förderung der Lebensgrundlagen und Ernährung) in alle humanitären und Flüchtlingshilfepläne integriert werden – mit konkreten Maßnahmen, Zielen und Rechenschaftsmechanismen.

    → fortlaufender Kapazitätsaufbau für humanitäre Ersthelfende und lokale Partner einschließlich Glaubensführinnen und -führer bereitgestellt wird, in Bezug auf Kinderschutzprogramme, Mainstreaming und politische Anwaltschaftsarbeit. 

World Vision ruft alle Konfliktparteien auf:

  • ihre Verpflichtungen gemäß internationalem humanitären Völker-, Menschen- und Flüchtlingsrecht zu respektieren, um Kinder vor schweren Verletzungen zu schützen.
  • ihre Verpflichtungen zu den Resolutionen des UN-Sicherheitsrats zum Schutz von Zivilisten in bewaffneten Konflikten zu priorisieren, welche sowohl staatliche als auch nichtstaatliche Akteure für Verstöße wie die Nutzung von Hunger als Kriegswaffe und die Blockierung humanitärer Hilfe und Nahrungsmittelhilfe für gefährdete Gruppen unter Strafe stellen.
  • das Recht auf Nahrung zu respektieren.
  • sich an Dialogen und Verhandlungen zu beteiligen, um friedliche und nachhaltige Lösungen zur Bekämpfung der Ursachen von Ernährungsunsicherheit, Hunger und Unterernährung zu finden. 

Eine Geschichte aus 📍 Uganda, die Hoffnung macht

Joyce Geschichte macht Hoffnung, Uganda

„Frische Maniokblätter, das war alles, was ich hatte. Ich habe sie gekocht und meinen Kindern als Mahlzeit gegeben", sagt Joyce, eine 31-jährige flüchtende Mutter von fünf Kindern. „Ich erinnere mich, wie meine Kinder tagelang ohne Essen auskommen mussten. Die weinenden Augen, die müden Gesichter und die schwindenden Stimmen ... ich konnte den Anblick nicht ertragen.“ 

Joyce ist eine von einer Viertelmillion flüchtenden Menschen, die im Bidi Bidi-Flüchtlingslager leben, viele von ihnen stammen aus dem Südsudan. Vor der Hungerkrise erhielt jeder Haushalt des Lagers 4,2 kg Bohnen und 12 kg Mais pro Person als Lebensmittelration für einen Monat. 

„Wenn ich die Lebensmittelration für den Monat vom Welternährungsprogramm WFP über World Vision erhielt, musste ich jedes Gramm ganz genau einteilen, damit es uns für 30 Tage reichte, ansonsten drohte Hunger“, sagt sie. Aber trotz sorgfältigen Einteilens reichte das Essen oft nicht und Joyce war besorgt um die Zukunft ihrer Kinder.

Angesichts häufiger Budgetkürzungen und schrumpfender Rationen entwickelte World Vision in Zusammenarbeit mit dem WFP und dem Büro des Premierministers von Uganda ein neues Programm, um sicherzustellen, dass jede Familie das ganze Jahr über Zugang zu erschwinglichen, gesunden und nahrhaften Lebensmitteln hat. Gemeinsam entwickelten die Organisationen ein Sofortprojekt basierend auf dem sogenannten „Block-Farming“. Bei diesem Ansatz werden große zusammenhängende Landflächen in kleinere, bewirtschaftbare Blöcke unterteilt, die von Gruppen von Bäuerinnen und Bauern zusammen bearbeitet werden, um Effizienz, Produktivität und Nachhaltigkeit zu fördern.

Block-Farming in Uganda
Joyce aus Uganda bei der Arbeit

Circa 160 Hektar Land, welches von den aufnehmenden Gemeinden erworben wurde, überließ man mehr als 10.000 Flüchtlingsfamilien der Flüchtlingslager Bidi Bidi und Lobule. Jede Familie erhielt ein 30 mal 30 Meter großes Grundstück, um sich dort niederzulassen und Lebensmittel für den Eigenbedarf anzubauen.

„Wir machen auch weiterhin auf die schlimme Hungerkrise aufmerksam, aber arbeiten gleichzeitig gemeinsam daran, eine nachhaltigere Zukunft für alle zu schaffen", sagt Cyril Acema, World Vision Livelihoods Officer in Bidi Bidi. „Jetzt können die Flüchtlingsfamilien ihre Lebensmittel teilweise selbst anbauen, um die Lebensmittelrationen zu ergänzen.“ 

Inzwischen gibt es vier dieser Block-Farms mit jetzt insgesamt 483 Hektar Land. Im Durchschnitt arbeiten 100 Familien auf einer Block-Farm, wobei jedem Haushalt etwa ein Hektar Land für die Landwirtschaft zugewiesen wird. Als flüchtende Mutter hatte Joyce nie davon gewagt davon zu träumen, einmal Land zu bebauen oder einen Garten für 40 US-Dollar im Jahr zu mieten. Doch durch die Einführung der gemeinschaftlich bewirtschafteten Block-Farm hat sie sich zu einer erfolgreichen Bäuerin entwickelt.

Heute bewirtschaftet Joyce ihren Garten auf dem Landstück, das sie mit Hilfe von WFP und World Vision erhalten hat. Sie hat ein Haus gebaut und baut Gemüse an, welches hilft, dass ihre Kinder gesund bleiben. „Meine Lebensmittelrationen sind meist innerhalb von zwei Wochen aufgebraucht, aber dann kann ich auf meinen Küchengarten zurückgreifen. Früher musste ich meine Nachbarn um Hilfe bis zur nächsten Verteilung bitten.“

Joyce fügt hinzu: „Ich habe immer davon geträumt, meine Lebensmittel anzubauen und selbst zu bestimmen, wie und wann meine Familie isst. Mit diesem Stück Land kann ich genau das tun. Ich bin zuversichtlich, dass meine Familie nicht mehr hungern muss.“

Da die flüchtenden Familien eng mit den aufnehmenden Gemeinden zusammenarbeiten, um mehr Lebensmittel zu produzieren, könnte die Block-Farm-Landwirtschaft das fehlende Element sein, um den vielen gefährdeten Familien, welche in fragilen Kontexten leben müssen, eine gute Zukunft zu sichern.

„Jetzt schon melden sich viele Familien bei uns, um bei dem Block-Farm-Projekt mitzumachen,“ sagt Acema, „Wir arbeiten mit unseren Partnern daran, noch mehr Ackerland zu sichern.“