Kindern auf der Flucht droht mehr sexualisierte Gewalt
World Vision-Aktion macht die Tragweite der Verletzungen sichtbar und fordert zu größerer Unterstützung des Rechts auf Kindheit auf
Berlin, 10.6.2021
Sie bleibt meist unsichtbar und nimmt in vielen Regionen der Welt dennoch zu: sexualisierte Gewalt an Kindern, die in Konfliktgebieten leben oder auf der Flucht sind.
Wachsende Fluchtbewegungen, zerfallende Rechtssysteme und die Corona-Pandemie haben die Gefährdung vieler Kinder vergrößert. Die Pandemie erschwert auch einen effektiven Schutz ihrer Würde und Gesundheit. Obwohl jede einzelne Tat ein ganzes Leben zerstören kann und viele öffentliche Investitionen in Bildung und Entwicklung bedroht sind, investiert die internationale Staatengemeinschaft bisher weniger als ein Prozent ihrer humanitären Zuwendungen in die Prävention sexualisierter Gewalt und in Hilfsmaßnahmen für betroffene Kinder.
Die Kinderhilfsorganisation World Vision machte heute am Brandenburger Tor in Berlin auf die Tragweite der fehlenden Hilfen aufmerksam. Unter dem Motto "Hände weg von meiner Kindheit" warb ihre Kampagnen-Aktion dafür, sexuelle Gewalt gegen Kinder auf der Flucht aktiver zu bekämpfen. Sowohl Mitglieder des Bundestages als auch Künstlerinnen und Künstler beteiligten sich an der Aktion, anlässlich des bevorstehenden Welttages zur Beseitigung sexualisierter Gewalt in Konflikten (19. Juni) und des Weltflüchtlingstages (20. Juni).
Um die erschreckende Dimension des Problems zu verdeutlichen und zugleich ein klares Zeichen zu setzen, füllte World Vision den Pariser Platz mit orangenen und schwarzen STOP-Schildern, auf denen ein kleiner Teddy das Recht auf Kindheit symbolisierte. Das Bild unterstrich die zentrale Aussage: Eines von fünf Mädchen und eine von fünf Frauen hat im bewaffneten Konflikt oder auf der Flucht bereits sexualisierte Gewalt erlebt. Geschätzte 50 Millionen vertriebene und entwurzelte Kinder sind besonders vielen Gefahren ausgesetzt, denn ihre unsicheren Lebensbedingungen begünstigen Ausbeutung und Kinderhandel sowie sexuelle Übergriffe auf allen Etappen der Flucht. Durch mangelnde Versorgung werden viele Kinder auch zur frühen Heirat gezwungen oder müssen ihren Körper als "Währung" zum Überleben einsetzen. Für Mädchen ist dies oft mit ungewollten Schwangerschaften verbunden. Jungen sind von sexualisierter Gewalt ebenfalls betroffen, haben in der Folge auch oft Depressionen oder sogar Selbstmordgedanken. Dies bezeugte der ehemalige Kindersoldat Innocent Opwonya während der Aktion.
„Es gehört Mut dazu, über das sehr sensible Thema in der Öffentlichkeit zu sprechen - aber noch viel mehr Mut und innere Kraft müssen die Überlebenden jeden Tag aufbringen, um mit ihrem traumatischen Erlebnis und vielen Folgeproblemen weiter zu leben“, erklärte der Vorstandsvorsitzende von World Vision Deutschland, Christoph Waffenschmidt. „World Vision geht heute auf die Straße und erhebt seine Stimme im Namen aller Kinder, die oft schweigend unter den Verletzungen durch sexualisierte Gewalt leiden.“ Überlebende, die das Schweigen von sich aus brechen, verdienten große Hochachtung. Als Beispiel nannte Waffenschmidt die Uganderin Angela Latim Akor, die sich nach jahrelanger Gefangenschaft bei der Terrorgruppe LRA heute für andere Überlebende einsetzt und gegen deren Ausgrenzung durch die Gesellschaft ankämpft.
Sinnbilder für Schmerz und mitfühlende Reaktionen auf das Schicksal betroffener Kinder vermittelten am Brandenburger Tor 20 mit den Schildern tanzende Frauen und Mädchen. Die Performance unter Leitung der Choreografin und Therapeutin Ka Rustler repräsentierte "1000 Stimmen" der Solidarität. Dazu wurde eine Instrumentalversion des Songs "Mehr als Tausend" gespielt, den 16 Musikerinnen und Musiker gemeinsam zur Unterstützung der World Vision-Kampagne produziert haben. Das Musik-Video steht der Öffentlichkeit ab heute auf YouTube zur Verfügung.
Die Kinderschutzexpertin Verena Bloch informierte über konkrete Hilfsmöglichkeiten. Diskriminierende Geschlechter-Rollen zu diskutieren, sei ein wichtiger Ansatz zur Prävention, da sie oft eine Ursache für sexualisierte Gewalt gegen Mädchen und Frauen seien. World Vision arbeitet dabei mit vielen Gesellschaftsgruppen und lokalen Autoritäten zusammen, etwa in Afghanistan und im Südsudan. In Flüchtlingslagern sensibilisiert die Organisation die Menschen für Gefahren in ihrer Umgebung und unterstützt Kinderschutzmaßnahmen, wie zum Beispiel die Einrichtung sicherer Wege oder auch Angebote zur Betreuung von Kindern in geschützten Räumen. Helferinnen und Helfer werden darin geschult Anzeichen von sexualisierter Gewalt bei geflüchteten Menschen zu erkennen und angemessen darauf zu reagieren, aktuell etwa in der äthiopischen Provinz Tigray, wo im November letzten Jahres ein Konflikt eskalierte.
Um die Vergehen verfolgen und Betroffenen medizinisch, psychologisch oder auch wirtschaftlich helfen zu können, kooperiert World Vision mit staatlichen und nicht-staatlichen Einrichtungen beim Aufbau eines Melde- und Referenz-Systems. Außerdem bietet World Vision selbst in einigen Projekten psychosoziale Hilfe oder auch Rehabilitationshilfen an. „Ich finde es sehr gut, dass alle Aspekte der sexualisierten Gewalt bei der Hilfe zur Sprache kamen“, fasste die 16-jährige Scola (Pseudonym) aus Burundi ihre persönliche Erfahrung zusammen.
Mit ihren Zielen für nachhaltige Entwicklung (SDG) hat sich die Staatengemeinschaft das Ziel gesetzt, bis 2030 alle Formen von Gewalt gegen Kinder zu beenden, einschließlich der sexualisierten Gewalt in Konfliktgebieten und Flucht-Kontexten. Die dafür erarbeiteten Pläne und Standards zum Schutz von gefährdeten Kindern müssten, auch in der EU, konsequenter umgesetzt werden, fordert Christoph Waffenschmidt. „Pflästerchen auf tiefe Wunden helfen nicht! Es müssen angesichts der aktuellen Entwicklung sowohl mehr Programme zur Prävention sexualisierter Gewalt als auch mehr Programme zur Unterstützung Betroffener ins Leben gerufen werden. Hierfür müssen wesentlich mehr Ressourcen zur Verfügung gestellt werden.“
Zusatzinformationen für Redaktionen
1. Die Aktion "Hände weg von meiner Kindheit" ist Teil der mehrjährigen World Vision-Kampagne „Jeder Einzelne zählt, um Gewalt gegen Kinder zu beenden“.
2. Zahlen zum Anstieg sexualisierter Gewalt in Konflikt- und Krisengebieten sowie zum Anteil betroffener Mädchen und Frauen entstammen hauptsächlich Veröffentlichungen von UNOCHA, der UN-Koordinierungsstelle für humanitäre Hilfe. In 80 Prozent der Einsatzgebiete von UNOCHA wurde die Gefährdung von Zivilisten durch Gewalt Anfang des Jahres als sehr ernst eingestuft, und aus 27 Einsatzgebieten wurde ein Anstieg sexualisierter Gewalt gemeldet.
3. World Vision hat in diesem Jahr erneut gemeinsam mit weiteren Hilfsorganisationen einen Bericht über den Umfang jährlicher Entwicklungshilfen (ODA) für die Beendigung von Gewalt gegen Kinder veröffentlicht. Der Bericht "Counting Pennies“ weist auf eine nur geringfügige Erhöhung seit 2017 hin, trotz politischer Bekenntnisse zu einer höheren Priorisierung des Problems.
4. Den Song-"Mehr als Tausend", der auf die persönliche Geschichte jedes geflüchteten Menschen und deren offenen Ausgang hinweist, hat Diane Weigmann komponiert. 16 Musikerinnen und Musiker mit Wurzeln in vielen verschiedenen Ländern beteiligten sich an dem Song-Projekt. Die Initiatorin Anne de Wolff sagt zu dessen Geschichte. „Immer wieder hörte ich in den letzten Monaten von der schwierigen, oft sogar wirklich fürchterlichen, menschenunwürdigen Situation von Kindern auf der Flucht. Dies beschäftigte mich jedes Mal sehr. Als meine liebe Freundin Diane mir ihren Song vorspielte, hatte ich das Gefühl, dass dies für mich als Musikerin vielleicht ein sinnvoller Moment ist, diesen Kindern irgendwie helfen zu können. Ich freue mich sehr, über meine langjährige Verbindung zu World Vision durch BAP eine gute und hoffentlich ertragreiche Möglichkeit für den Einsatz des Liedes gefunden zu haben - und nicht zuletzt auch über all die großartigen KünstlerInnen, welche mittlerweile Teil dessen wurden.“