Etwa drei Mal so groß wie Deutschland, ist Kolumbien schon geografisch ein großes Einsatzgebiet für Mayerly Sánchez Clavijo. Vor allem braucht sie aber viel Optimismus, Mut und Fingerspitzengefühl, um im Dschungel der vielen Konflikte und Krisen ihrem persönlichen Lebensziel näher zu kommen: eines Tages sollen alle Kinder in diesem Land ohne Angst und Terror leben können. Es kann gefährlich werden sich mit denen anzulegen, die eine andere Agenda haben.
Auf ihrem erstaunlichen Weg vom Slum-Kind zur Friedensaktivistin und dann zur Kommunikationschefin von World Vision Kolumbien hat Mayerly Sánchez Clavijo aber Entschlossenheit bewiesen. Und sie geht ihren Weg weiter. Ihre stärksten Antriebskräfte: die Hoffnungen der Kinder, denen sie eine Stimme gibt und an deren unbegrenzte Möglichkeiten sie glaubt. So wie ihr World Vision-Pate einst an ihre Zukunft glaubte.
Manchmal ist spontaner Einsatz gefragt: Im Grenzgebiet zu Venezuela wird Mayerly Zeuge, wie eine junge Venezolanerin mit Baby auf dem Arm auf dem Weg zu einer Klinik ohnmächtig zusammenbricht - aus Hunger, wie sich später herausstellt. Mayerly kümmert sich um das Baby, während ein Kollege der Mutter Hilfe leistet. Traurig schüttelt sie den Kopf angesichts des Elends, als sie weitere erschöpfte Menschen über die Grenze kommen sieht.
Seit letztem Jahr ist Mayerly oft bei geflüchteten Familien, die durch World Vision zum Beispiel Lebensmittel-Gutscheine erhalten oder ihre Kinder in eines der Betreuungszentren bringen. Bei einem dieser Besuche nahe der Stadt Cúcuta entdeckt Mayerly Ähnlichkeiten mit dem Zuhause ihrer Kindheit. „Ich bin in genau so einer Umgebung aufgewachsen“, sagt sie und deutet auf heruntergekommene Häuser mit löchrigen Bretterwänden an einer nur teilweise gepflasterten Straße.
Kindheit im Bürgerkrieg und am armen Stadtrand
Mayerlys Familie lebte in einem rasant wachsenden, vorwiegend armen Stadtrandgebiet südlich von Bogota, der Hauptstadt Kolumbiens. Zur Nachbarschaft gehörten viele Menschen, die durch Bürgerkrieg, Bandengewalt oder Paramilitärs vertrieben worden waren. Sie bauten sich schnell ein Häuschen und versuchten irgendwie zu überleben. Für die Kinder war am schlimmsten, dass der Terror in die Gesellschaft und in die Familien eingesickert war. Mayerly erlebte viel Gewalt.
„Bei Dunkelheit war es zu gefährlich, das Haus zu verlassen“, erinnert sich die heute 35-Jährige. Jugendliche versuchten sich als Bandenmitglieder Macht und Geld zu verschaffen – wie heute noch in vielen mittel- und südamerikanischen Ländern. Der Drogenhandel blühte. Mayerlys Eltern wiesen dem Mädchen jedoch durch ihr Beispiel einen anderen Weg – Gott zu lieben und Liebe an Mitmenschen weiter zu geben.
Als World Vision Anfang der 90er Jahre in dem Gebiet ein Entwicklungsprojekt startete, bekam Mayerly den ersten Impuls, dass man die Verhältnisse nicht einfach hinnehmen muss. Sie wurde ein Patenkind und damit nicht nur zum Lernen in der Schule, sondern auch zu gemeinschaftlichem Engagement ermuntert.
Im Kinderklub und durch weitere mit der Patenschaft verbundene Aktivitäten lernte Mayerly sich zu äußern, wenn sie sah, wie andere ausgebeutet wurden. Sie lernte auch Verantwortung für ihr Handeln zu übernehmen. Mehrere aktive Kinder, darunter auch Mayerly, beschlossen sich für Frieden und Gerechtigkeit einzusetzen. Sie spielten selbst kreierte Theaterstücke, übten öffentliche Debatten - anfangs auf einer Brachfläche - und luden zu Fair-Play-Fußballspielen ein, um Kinder von Drogen, Kriminalität und Gewalt fernzuhalten. Das sprach sich herum.
Ein persönlicher Austausch mit dem Paten kam zwar nicht zustande (weil dieser es vorzog, anonym zu bleiben), aber es bedeutete Mayerly viel, dass jemand außerhalb ihrer Familie an sie glaubte und wollte, dass sie Erfolg hatte.
Tragödie und eine Friedensbewegung
Die erste große Krise ihres Lebens hatte Mayerly, als ihr bester Freund 1996 von einer Jugendbande erstochen wurde. Öffentlich wurde von dem Mord kaum Notiz genommen. Es war einer von tausenden Morden in dem vom Bürgerkrieg gequälten Kolumbien. Doch der sinnlose Tod des Jungen war für Mayerly viel mehr als nur ein Fall für die Statistik. „Diese Erfahrung hat mein Leben geprägt“, sagt sie. Sie verwandelte die Trauer um ihren Freund in ein unermüdliches Eintreten für Kinderrechte und Frieden in Kolumbien.
Einige Monate nach der Ermordung ihres Freundes folgte Mayerly der Einladung von UNICEF zu einer nationalen Kinderkonferenz. Dort diskutieren sie Ideen zur Veränderungen in ihrem Land. Das war die Geburtsstunde der Kinder-Friedensbewegung von Kolumbien, und Mayerly Sánchez wurde zu ihrer Sprecherin gewählt. Ihre erste Aufgabe bestand darin, Kinder zu mobilisieren, ihre Stimmen in einer Sonderwahl abzugeben, die das „Mandat für Frieden und Rechte für Kinder“ genannt wurde.
Mit Unterstützung von Hilfsorganisationen konnten Mayerly Sánchez und ihre Freunde öffentliche Kundgebungen organisieren und im ganzen Land über ihre Erfahrungen mit Gewalt sprechen. So wuchs die Kinder-Friedensbewegung rasch an, ließ sich auch von Todesdrohungen nicht abbringen. Im Oktober 1996 stimmten schließlich 2,7 Millionen Kinder in Kolumbien erstmals für ihre grundlegenden Rechte, und sie setzten das Recht in Frieden zu leben ganz weit oben auf die Liste. Was Mayerly bis heute freut: „Es war ein friedlicher Tag in meinem Land.“
Die Kinder-Friedensbewegung konnte zwar den Bürgerkrieg nicht stoppen, aber sie hat viel erreicht. Sie pflanzte den Wunsch nach Frieden in das Bewusstsein der Menschen, die bislang zu eingeschüchtert waren, um sich zu engagieren. Sie brachte Friedenserziehung in die Schulen. Und sie setzte das Thema auf die Agenda der kolumbianischen Politik.
Mit Auszeichnung als Botschafterin der Kinder unterwegs
1998 - und drei weitere Jahre in Folge - wurde die Kinder-Friedensbewegung für den Friedensnobelpreis nominiert. Im Jahr 2001 erhielt sie den Welt-Kinderpreis. Mayerly erhielt als eine der leitenden Persönlichkeiten der Bewegung Gelegenheit, in Mittel- und Südamerika, in Europa und vor den Vereinten Nationen für die Kinder in Kolumbien zu sprechen. Sie traf sich auch mit Nobelpreisträgern, darunter Erzbischof Desmond Tutu, Nelson Mandela und der osttimoresische Politiker José Ramos-Horta. Zuhause übernahm Mayerly die Aufgabe, andere Jugendliche für Führungsaufgaben und Friedenseinsätze auszubilden.
Ich glaube, dass Kinder einfach mehr Hoffnung haben als Erwachsene. Sie steckt in jeder Faser ihres Körpers.
Ein Leben voller Herauforderungen
Mit 17 freute sich Mayerly auf das College und verkaufte selbst gemachte Kunstwerke, um etwas Geld dafür zu verdienen. Da traf sie eine neue Tragödie: Ihr Vater starb bei einem Verkehrsunfall. Zuerst war sie am Boden zerstört. „Ich wusste nicht, was ich tun sollte“, sagt sie. Sie überlegte, ihren Traum vom College und einer Karriere aufzugeben und stattdessen zu arbeiten, um ihre Familie zu unterstützen. Aber als sie sich an die Ermutigungen erinnerte, die ihr Vater und ihre Mutter ihr gegeben hatten, traf sie eine andere Wahl.
Als Patenkind bei World Vision hatte Mayerly gelernt, sich Ziele zu setzen und sie auch zu erreichen. Sie erwarb Stipendien und machte an der Uni einen Abschluss in Journalismus, danach einen Master-Abschluss in strategischem Marketing. „Ich hatte ja in meiner Jugend erfahren, dass ich durch gute Kommunikation auf Menschen einwirken und sie zu Entscheidungen gegen Gewalt bewegen kann“, erklärt sie ihre Berufswahl. Sie mag es auch sehr, Menschen und ihren Geschichten nah zu sein.
Erste Erfahrungen in der beruflichen Arbeit mit Kindern sammelte Mayerly in einem Projekt zur Landminen-Aufklärung. Ihre aktuelle Arbeit bei World Vision baut auf all dem auf und ist ein weiteres spannendes Kapitel in ihrem Leben. Ein Blick in den Twitter-Kanal von World Vision Kolumbien verrät, dass die Beendigung von Gewalt darin weiter eine große Rolle spielt.
Klare Vorstellung vom Aufbau einer Friedenskultur
Mayerly Sánchez Clavijo hat sich nicht nur ihre Hoffnung bewahrt, sondern eine klare Vorstellung davon, wie eine Friedenskultur von unten in Kolumbien aufgebaut werden kann - ausgehend von veränderten Familien.
Seit sie selbst verheiratet ist und zwei Kinder hat, erscheint ihr eine „Erziehung mit Zärtlichkeit“ und ein effektiver Schutz jedes Kindes vor Gewalt noch bedeutsamer als früher. Wenn Kinder geschützt sind und bedingungslos geliebt werden, entscheiden sie sich auch eher gegen Gewalt, ist ihre Erfahrung. „Mit Liebe änderst du alles“, sagt sie.
Auch wenn sie heute nicht bei jeder Kampagne oder Schüler-Initiative vorneweg marschieren kann, ist sie mit ganzem Herzen dabei. Und wenn der Weg mal woanders hinführen wird?