World Vision-Mitarbeiterin Esther Lehmann hat lange in Mauretanien gelebt und gearbeitet, zunächst als Projektentwicklerin, dann als Programm– und schließlich als Landesdirektorin. Heute lebt und arbeitet sie im Nachbarstaat Senegal und ist für den Bereich „Glaube und Entwicklung“ bei World Vision International zuständig. Wir haben mit ihr über das Leben im Wüstenstaat, die Veränderungen vor Ort und das Leben der Patenkinder gesprochen.
Esther, du hast viele Jahre in Nouakchott gelebt. Wie hast du die Hauptstadt erlebt?
Esther: Das erste Bild, das ich von jener Stadt gesehen hatte, hängt bis heute in meinem Zimmer. Man sieht darauf den Stadtrand mit einem Meer von Wellblech bedeckten Hütten. Das kleine Fischerdorf an der Küste wurde 1958 zur zukünftigen Hauptstadt bestimmt und für 100.000 Einwohner geplant. Doch die Saheldürre in den 1970er Jahren raubte dem Großteil der mauretanischen Bevölkerung, den Nomaden, ihre Existenzgrundlage und löste eine Flut von Flüchtlingen aus.
Überforderte Infrastruktur
Schon bald lebten in der Hauptstadt über eine Million Einwohner: Häuser, Straßen, Schulen, Gesundheitsstationen... alles wurde von etwa zehnmal so vielen Menschen gebraucht als geplant war.
Viele Menschen kamen also mit der Hoffnung in die Stadt, sich ein neues Leben aufbauen zu können.
Esther: Ja, aber das war sehr schwer. World Vision begann, parallel im städtischen und im ländlichen Bereich mit Projekten zu unterstützen: Auf dem Land, um alternative Einkommensmöglichkeiten zur Viehzucht zu schaffen, in der Stadt ging es vor allem um sozial strukturierende Projekte. Zusätzlich wurde der Aufbau von gesundheitlichen und schulischen Einrichtungen gefördert. Ein Konzept, das aufging und das Leben vieler Kinder mit ihren Familien verbessern konnte. Trotzdem gibt es auch heute noch viel zu tun.
Wie waren deine ersten Eindrücke vor Ort?
Esther: Ich wohnte mit einer Familie in einem armen Viertel, mietete ein Zimmer und teilte den Rest der Wohnung mit einer alleinerziehenden Mutter, ihrer Mutter, ihren fünf Kindern und zwei Enkeln.
Nomadenzelt im Hof
Die Großmutter, die noch bis vor Kurzem zwischen Sanddünen gelebt hatte, traute den Betonmauern nicht und wohnte im Nomadenzelt, das im Hof aufgestellt war. Ich erlebte hautnah mit, wie die erste Generation von Nomaden sich mit der Wirklichkeit von urbanem Leben auseinandersetzt.
Zum ersten Mal einen Wasserhahn zu haben, anstatt zum Fluss oder Brunnen zu pilgern, war ein großer Gewinn!
Wie konnten unter diesen Umständen Fortschritte erzielt werden?
Esther: Wir haben ein Modell entwickelt, das bis heute sehr gut funktioniert: Wir bauten kleine, offene, aber überschattete Plätze, wo die Kinder morgens hinkommen konnten, wie in eine Art Hort. Nachmittags kamen dann die Mütter dazu. Sie haben dort sticken, stricken und batiken gelernt und gleichzeitig etwas über Ernährung. Sie haben gelernt, mit welchen Maßnahmen sie das Einkommen der Familie aufbessern können.
Der Wunsch, dass ihre Kinder Chancen in der Stadt haben, hat die Frauen geeint.
Wie ist das Leben in Nouakchott heute?
Esther: Nouakchott hat sich zu einer Großstadt entwickelt. Es gibt viel mehr Straßen, Autos, Häuser, Schulen und Kliniken als damals. Die Sterblichkeitsrate von Müttern und Kleinkindern ist zum Glück stark zurückgegangen.
Welche Rolle spielen die World Vision-Patenschaften?
Esther: Zwar haben wir dank unserer Paten schon vieles für die Kinder verbessern können, die Notwendigkeit zur Unterstützung bleibt: Die meisten Kinder können auch trotz Schulbesuch mit elf Jahren nicht lesen. Armut in ihren unterschiedlichen Facetten ist immer noch eine tägliche Wirklichkeit für zu viele Kinder und deren Familien. Hier müssen wir mithilfe der Patenschaften uns noch weiter dafür einsetzen, dass sie Zugang zu Bildung und Gesundheit haben und auch genug Wasser und Nahrung haben.
So manches in Mauretanien ist fast das Gegenteil von 'deutscher Normalität'. Aber Kinder, Mütter, Väter hier und dort haben weit mehr gemein, als sie unterscheidet – es ist der Wunsch, Kinder gesund, glücklich und mit einer Perspektive für die Zukunft zu sehen.
Wie hast du die Kultur in Mauretanien erlebt? Was ist dir besonders in Erinnerung geblieben?
Esther: Bei meinen Besuchen in Familien habe ich viel über die Menschen gelernt. Alle sind unheimlich gastfreundlich und man wird schnell zum Essen eingeladen. Auf eine große Platte kommt der Reis und darauf Gemüse, Fleisch oder Fisch. Dann sitzt man auf dem Boden im Kreis um die Platte und isst mit der Hand den Anteil, der vor einem ist.
Wie bist du damit zurechtgekommen?
Esther: Als Gast bekam ich oft einen Löffel gereicht oder ein Kissen, damit ich es bequemer hatte.
Nach dem Essen kommt die Tee-Zeremonie, bei der dreimal grüner Tee mit Minze aufgekocht wird. Das kann bis zu zwei Stunden dauern: Wenn die Gastgeber ausdrücken wollen, dass du willkommen bist, lassen sie sich für den zweiten und den dritten Aufguss viel Zeit. Und wenn sie keine Zeit haben, dann kann das auch ganz schnell gehen.
Das hört sich spannend an. Wie ist es denn mit Sprache und Schrift?
Esther: Zunächst muss man wissen, dass in Mauretanien der arabische Dialekt Hassaniya gesprochen wird. Oft ist es schwierig, Freiwillige zu finden, die Englisch oder Französisch können und zum Beispiel Briefe an das Patenkind oder vom Patenkind übersetzen. Dazu kommt, dass dieser Dialekt keine Schrift-Kultur ist.
Malen als Papierverschwendung
Für kreative Dinge hat man ganz einfach noch nicht den Luxus. Im Leben der Familien der Patenkinder geht es um ganz elementare Sachen: Kann ich meine Miete zahlen? Strom und Wasser? Kann ich heute einkaufen, damit meine Familie zu essen hat? Deshalb ist es wichtig, dass wir die Familien in Sachen Einkommensförderung auch weiter unterstützen.
Trotzdem gehen inzwischen die meisten Kinder zur Schule.
Esther: Ja, und die Qualität des Unterrichts wird langsam besser, aber es fehlt an Lehrmitteln und anderem Material. Schreiben und Rechnen bestimmen den Lehrplan. Für Fächer wie Sport oder Kunst fehlt es noch viel zu sehr an Grundsätzlichem, das erst aufgeholt werden muss. Mithilfe der Patenschaften kann World Vision hier auch weiter unterstützen und zum Beispiel Lehrer – gerade im Bereich Vorschule – weiterbilden, Eltern über die Bedeutung von Schulbildung aufklären, Lesecamps einrichten, Schulen mit Büchern ausstatten und vieles mehr.