Während der Corona-Pandemie hat sich für viele Mädchen das Risiko sexualisierter Gewalt erhöht. Als die Schulen im März 2020 geschlossen wurden, begann auch in Kenia besonders für Mädchen aus armen Familien eine schwierige und gefährliche Zeit. Geldmangel erhöhte den Druck, sich auf „Hilfsangebote“ von Männern gegen Sex einzulassen oder auch einer Heirat zuzustimmen. Vermehrt nutzten Eltern in ländlichen Gebieten auch die schulfreie Zeit, um ihre Töchter durch Beschneidung „heiratsfähig“ zu machen - doch mit Unterstützung vieler Mentorinnen und Mentoren in unseren Projekten wächst auch erfolgreich der Widerstand gegen die Praxis.
„Viele junge Mädchen haben außer Hausarbeit nichts, womit sie sich beschäftigen können, da die Schulen geschlossen sind. Daher können sie leicht beeinflusst oder gezwungen werden, sich als Vorbereitung auf die Ehe einer Beschneidung zu unterziehen“, beobachtete die 15-jährige Zipporah in ihrem Umfeld. „Das kann ich nicht zulassen! Deshalb spreche ich mit vielen Mädchen, um sie zu warnen und zu schützen.“
Früher wusste Zipporah selbst nichts über die Gefahren, die einige Praktiken ihrer Gemeinschaft mit sich bringen. Doch dann starb eine Freundin aus dem Nachbardorf an den Folgen einer Beschneidung: „Meine Freundin verlor eine Menge Blut und starb schließlich. Sie hatte so große Schmerzen“, erzählt sie.
Heute ist Zipporah entschlossen, die Mädchen ihrer Massai-Gemeinschaft vor weiblicher Genitalverstümmelung (Female Genital Mutilation FGM) zu schützen und von zu früher Heirat abzuhalten.
Seit dem Tod meiner Freundin möchte ich nie wieder erleben, dass ein Mädchen einer Genitalverstümmelung unterzogen wird.
Aufklärung durch Kinderschutz-Kurs
Der Tod der Freundin hat Zipporah aufgerüttelt. Vieles wurde ihr aber erst richtig klar, als sie an einem Kurs von World Vision zu Kinderschutzrechten teilnahm.
Im Training durch World Vision erfuhr sie, dass die weibliche Genitalverstümmelung eine schwerwiegende Verletzung der Kinderrechte ist, und sie lernte auch die körperlichen und psychischen Gefahren kennen. Nach dem erfolgreichen Abschluss des Trainings nahm sich Zipporah vor, ihre Freunde dafür zu gewinnen, die Kinderrechte zu verteidigen und gegen sexualisierte Gewalt zu kämpfen.
So gefährlich und folgenreich ist Genitalverstümmelung:
- Bei der Beschneidung der weiblichen Genitalien werden Klitoris und/oder Schamlippen entfernt – meist ohne Betäubung. Der Eingriff ist eine schwere Köper-und Rechtsverletzung, meist an Kindern. Daher hat sich international der Begriff "Genitalverstümmelung" (englisch: Female Genital Mutilation, FGM) durchgesetzt.
- Zu den unmittelbaren Folgen zählen Traumata, Blutungen und Infektionen, die zum Tod führen können. Langfristig leiden betroffene Frauen zum Beispiel unter chronischen Schmerzen, sexuellen Empfindungsverlusten, Geburtskomplikationen oder Unfruchtbarkeit.
- Sozialer Druck zur Einhaltung der Tradition hat unterschiedliche Wurzeln. Zum Beispiel: Nur ein beschnittenes Mädchen gilt als heiratsfähig und nur beschnittene Frauen können an bestimmten Riten teilnehmen. Durch eine Verheiratung junger Mädchen bekommt die Familie der Braut einen hohen Brautpreis. Nach einer Heirat brechen die Mädchen meist die Schulausbildung ab und haben so kaum eine Chance auf ein selbstbestimmtes Leben.
- Mädchen, die sich der schädlichen Praxis widersetzen, werden im schlimmsten Fall von ihrer Gemeinschaft verstoßen.
- Seit 2011 ist die Beschneidung in Kenia gesetzlich verboten. Dennoch ist sie bei manchen Ethnien noch weit verbreitet. Weil der Eingriff verboten ist, wird er oft heimlich durchgeführt.
Überzeugungsarbeit in den Familien
Die Mädchen sprechen auch in ihren Familien über ihre Rechte und klären ihre Eltern über die Auswirkungen der Genitalverstümmelung auf. Und sie engagieren sich inzwischen auch als Wächterinnen des Kinderschutzes in ihrem Dorf: Sie melden Fälle von Gewalt an zuständige Behörden wie den Ortsvorstand und die Kinderschutzbeauftragten von World Vision.
Zipporahs Mutter Naila, 47 Jahre alt, unterstützt die Jugendlichen und ermutigt deren Eltern, ihre Töchter unversehrt zu lassen. Ihre eigenen Eltern hätten sie gezwungen, sich dem Eingriff zu unterziehen, und etwas später sei sie auch verheiratet worden, erzählt sie.
Obwohl viele Eltern ihre Kinder zur Beschneidung zwangen, hat diese Praxis den Kindern nie geholfen.
„Die rituelle Beschneidung führt in unserer Kultur dazu, dass sich die Mädchen sehr jung bereit fühlen, einen Mann zu bekommen und eine eigene Familie zu gründen“, erklärt sie und fügt hinzu: „Der Eingriff kann bei den jungen Frauen zu viele Komplikationen führen. Schmerzen und Blutungen hören bei manchen nie auf und treten oft während und nach der Geburt auf“, fügt sie hinzu.
Starke Mentorin für junge Mädchen
Auch Teresa Cheptoo ist in ihrer Gemeinschaft der Pokot in Kenia mit Beschneidung und Frühverheiratung als normalen Bestandteilen des Aufwachsens junger Mädchen groß geworden. In dem Video erzählt die World Vision-Mitarbeiterin, wie einst das Patenschaftsprogramm ihr eigenes Leben verändert hat: Sie konnte sich dank der Kinderrechte-Clubs und Sensibilisierungsarbeit durch World Vision einer Beschneidung entziehen und einen Schulabschluss machen. Teresa setzt sich seitdem als Mentorin für die Rechte von Mädchen ein, und sie konnte zahlreiche weitere Beschneidungen verhindern. Viele der Mädchen, die sie unterstützt hat, haben die Schule abgeschlossen und sind dank einer Ausbildung heute selbstständige junge Frauen.
Gemeinsam ein schützendes Netzwerk bilden
Gleichberechtigung von Mädchen und Frauen, einschließlich ihrem Schutz vor Gewalt, sind nach unserer Überzeugung ein entscheidender Faktor für Entwicklung. Um einen nachhaltigen Wandel bei tief verankerten Traditionen zu erreichen, muss man alle einbeziehen. Deshalb arbeitet World Vision sowohl mit Frauen und Männern, Jugendlichen und staatlichen Strukturen als auch mit lokal angesehenen Autoritäten wie zum Beispiel Dorfältesten oder Glaubensführern zusammen. Während der Pandemie legen wir einen besonderen Fokus auf den Schutz gefährdeter Kinder, und viele unserer Verbündeten machen aus eigenem Antrieb mit.
So auch Chief Carlos aus dem Landkreis Baringo. Als Leiter der örtlichen Verwaltung nutzt er seine Autorität, um in seinem Gebiet alle Formen von Gewalt zu unterbinden, vor allem die weibliche Beschneidung und Kinderheirat. Er unterstützt die Prävention, nutzt aber auch notfalls rechtliche Möglichkeiten gegen Täterinnen und Täter.
Es spielt keine Rolle, wer du bist. Jeder, der Kindern Schaden zufügt, muss sich vor dem Gesetz verantworten.
Männer mit ins Boot holen
Gezielt spricht Carlos Kapkoikat die Männer in seiner Gemeinde an und unterstützt Gesprächsrunden, um ein Bewusstsein für die Rechte von Kindern zu schaffen. „Wenn wir den Kampf gegen Genitalverstümmelung und Kinderheirat gewinnen wollen, ist es wichtig, die Männer mit ins Boot zu holen. Sie sind diejenigen, die beschnittene Mädchen aufgrund der kulturellen Überzeugungen der Gemeinschaft heiraten wollen. Und wenn sie Väter werden, werden sie zulassen, dass ihre Töchter beschnitten und verheiratet werden, im Austausch für eine Mitgift, die ihnen Reichtum verschafft“, erklärt er. „Diese kulturellen Praktiken gibt es schon sehr lange und sie erscheinen normal. Deshalb ist es wichtig, die Männer zu erreichen und ihnen klar zu machen, wie schädlich einige für die Kinder sind und deshalb abgeschafft werden sollten.“
Neben den Männern klärt Chief Carlos auch die Frauen darüber auf, wie wichtig es ist, dass ihre Töchter zur Schule gehen und sich gesund entwickeln können.
Wegen der Corona-Krise ist Carlos derzeit besonders wachsam und schaut nach den Kindern, um sicherzustellen, dass niemand die vorherrschenden Umstände ausnutzt, um sie zu missbrauchen.
Die meisten Frauen, die erlebt haben, wie verheerend sich eine Beschneidung auswirken kann, wollen ihre Töchter vor den Erfahrungen bewahren.
Ehemaliges Patenkind setzt sich für Kinderschutz ein
Als ehemaliges Patenkind von World Vision weiß Carlos, welch großen Einfluss eine helfende Hand auf das Leben von gefährdeten Kindern haben kann. „Ich kam aus einer sehr armen Familie. Meine Eltern hatten kein Geld. Ich hätte nie gedacht, dass ich die Möglichkeit bekommen würde, wie andere Kinder zur Schule zu gehen und eine vielversprechende Zukunft zu haben“, sagt er. „Aber die Patenschaft machte dies möglich. Als Kind war ich gerührt, dass jemand an mich glaubte und bereit war, Geld zu spenden, damit ich meinen Traum verwirklichen konnte.“
Die Patenschaft hat mein Leben verändert und mich dazu inspiriert, mich immer für die Bedürftigen in unserer Gemeinde einzusetzen, besonders für Kinder.
Gemeinsamer Einsatz wirkt
Wie für Teresa und Zipporah wirkt sich das Zusammenspiel mehrerer Ansätze auch für tausende weiterer Mädchen bereits messbar positiv aus. Ein dauerhafter Indikator dafür ist zum Beispiel der Schulbesuch: In unserem Projekt Lokis im Landkreis Baringo hat sich zum Beispiel die Anzahl der Mädchen in Grund- und in weiterführenden Schulen verdoppelt. Ganze Dörfer haben nach Dialog-Foren und Senbilisierungsmaßnahmen den Beschluss gefasst, ihre Mädchen nicht mehr zu beschneiden. Während der Pandemie wird dennoch die Situation von rund 5.000 gefährdeten Mädchen durch Mentoren und Kinderschutzräte mit aktiven Mitgliedern wie Carlos überwacht. Brauchen Mädchen akut Schutz oder auch Hilfe nach Gewalt, werden diese Netzwerke ebenfalls aktiv.