Ein Bericht von World Vision-Mitarbeiterin Eva Martin
Diese Reise hat mich trotz Afrika-Erfahrung besonders herausgefordert. Mit zwei jungen Reportern von Y-Kollektiv und der in Berlin lebenden Musikerin Fatou Diatta - bekannt als Sister Fa - habe ich mich an das heikle Thema Mädchenbeschneidung gewagt. Wir wollten erfahren, warum es diese Tradition noch gibt - trotz internationaler Ächtung und vieler Kampagnen - und was ein kooperativer Kinderschutzansatz bewirken kann.
Ende Juli, während der Regenzeit, gleicht der Senegal einem kochenden Dampftopf. Man kann gar nicht anders, als sich der Langsamkeit des dort üblichen Geschehens anzupassen. Andererseits sehen wir bei unserer Fahrt von Dakar in den Süden ein grünes, fruchtbares Land. Auf den Feldern wird gerade viel gepflanzt, und die Mangobäume tragen viele reife Früchte. Nach 12 Stunden Fahrt erreichen wir unser erstes Ziel - die Stadt Kolda. In der Nähe liegt das Regionalentwicklungsprojekt Dabo und das noch darüber hinaus reichende Einzugsgebiet der Kinderschutzarbeit von World Vision, die von Sister Fa unterstützt wird.
Beschneidung als soziale Norm
Warum gerade dort? Die Beschneidung von Mädchen wird keineswegs von allen Ethnien im Senegal praktiziert, aber in dieser entlegenen Region im Zentrum der Casamance, die zwischen Gambia und Guinea-Bissau liegt, zählt sie noch zu den sozialen Normen. Unbeschnittene Frauen gelten als unrein und deshalb als nicht heiratsfähig. 80-90% der älteren Mädchen und Frauen sind betroffen. Der Brauch hat sich aber verändert und wird eher im Untergrund weitergeführt, da die Mädchenbeschneidung seit 1999 verboten ist.
Große Feste für die heranwachsenden Teenager, die damit früher ins Erwachsenenleben eingeführt wurden, gibt es nicht mehr. Heute werden die Mädchen meist wenige Monate nach der Geburt abseits der Öffentlichkeit beschnitten, wenn sie sich noch nicht mitteilen können. Um den Eingriff zu verheimlichen, reisen Familien mit ihren Töchtern oft in die Nachbarländer Guinea oder Gambia, in denen Mädchenbeschneidung noch ein legales Ritual ist.
Einen guten Einstieg in das Thema bekommen wir in einer Gesundheitsstation in Kolda. Der dort arbeitende Arzt erklärt uns, dass er in den letzten Jahren einen deutlichen Rückgang der Beschneidungen bei Mädchen beobachtet. Alle Kinder, die beispielsweise wegen Impfungen oder Malaria zu ihm gebracht werden, untersucht er komplett und kann so auch feststellen, ob die Mädchen beschnitten wurden. Auch werden neu geborene Kinder jetzt registriert, was früher nicht der Fall war. Seit 2013 arbeitet er mit World Vision zusammen, um die Gesundheit der Kinder zu verbessern.
Durch die Gesundheitshelferin Mariama erfahren wir, wie in den Dörfern Aufklärung geleistet wird. Mariama und Sister Fa, die im Süd-Senegal ausgewachsen ist, kennen sich bereits seit vielen Jahren und verfolgen das gleiche Ziel: Familien und Dorfgemeinschaften überzeugen, schädliche Traditionen aufzugeben und junge Mädchen vor Gewalt zu schützen!
Folgen von Genitalverstümmelung
Mariama arbeitet mit der Gesundheitsstation zusammen. Sie geht in die Dörfer und bespricht mit den Familien die körperlichen und psychischen Probleme, die durch Eingriffe an den weiblichen Genitalien auftreten können. Besonders Spätfolgen sind den Frauen oft nicht bekannt oder sie erdulden sie schweigend, um kein Tabu zu brechen. Es kann bei der Entfernung von Klitoris und Schamlippen leicht zu Verletzungen an Nerven und zu Narben-Bildungen kommen, die den Frauen chronisch Schmerzen bereiten, Infektionen begünstigen oder auch Geburten erschweren. Auch Unfruchtbarkeit kann eine Spätfolge der Genitalverstümmelung sein.
Wenn betroffene Mädchen oder Frauen Mut fassen und über ihre Beschwerden berichten, kann Mariama sie beraten und sie zur Gesundheitsstation begleiten. Leider muss aber davon ausgegangen werden, dass Familien ihre kleinen Töchter nur im äußersten Notfall – und sicherlich manchmal nicht rechtzeitig – zum Arzt bringen, wenn etwas schief gelaufen ist bei der heimlich durchgeführten Beschneidung. Denn die meisten Leute sind über das Verbot informiert und fürchten die angedrohte Bestrafung. Andererseits fühlen sie sich verpflichtet der Tradition zu folgen, weil gerade in ländlichen Gegenden das Ansehen der Familie immer noch das Wichtigste ist. Deshalb muss letztendlich die ganze Dorfgemeinschaft vom Sinn des Wandels überzeugt werden.
In einem Dorf nördlich von Kolda erzählt uns eine erst 25 Jahre alte ehemalige Beschneiderin ihre Sicht auf die Tradition und die Veränderungen. Sie hat die Rolle der Beschneiderin und die Messer als älteste Tochter von ihrer Mutter „geerbt“. Früher sei es eine Ehre gewesen, diese Aufgabe zu erfüllen. Auf unsere Frage, ob sie noch weiterhin Mädchen beschneidet, schüttelt die junge Frau den Kopf. Sie gibt aber zu, dass sie ohne das Verbot gerne weitergemacht hätte. Sie betrachtet die Beschneidung als Zeichen des Respekts gegenüber den Männern und kann die Gründe für das Verbot auch nicht nachvollziehen. Sie selbst habe niemals Komplikationen erlebt, obwohl alle Frauen in dem Dorf beschnitten seien.
Offene Gespräche über Beschneidung
Wir sitzen bei dem Gespräch in einer kleinen Runde mit Frauen, Männern und Kindern aus dem Dorf. Es scheint kein Problem zu sein, offen über das Thema zu reden. Mir fällt hierbei und auch bei weiteren Gesprächen auf, dass kein Mann offensiv für eine Fortsetzung der Tradition eintritt.
Noch mehr Einblicke in die Praxis gibt uns Maimona, schätzungsweise 45 Jahre alt. Sie hat allein zehn Mädchen aus ihrer eigenen Familie beschnitten. Erst vor einem Jahr hat sie den „Job“ der Beschneiderin aufgegeben, vor allem aus Angst vor Bestrafung. Lange habe sie sich versteckt gehalten, erzählt sie, weil sie Angst hatte, dass sie nachträglich noch verhaftet wird. Nun verdient sie ihren Lebensunterhalt durch die Herstellung und den Verkauf von Kleidung. Sie beschreibt uns, wie eine Beschneidung ablief. Das Mädchen kam zusammen mit der Mutter bereits einen Abend vorher zu ihr. Die Nacht verbrachten sie gemeinsam bei Maimona und am nächsten Tag liefen sie in einen Wald, in dem die Beschneidung vollzogen wurde. In den letzten Jahren habe sie sogar die Mädchen hinter dem Haus beschnitten. Sie zeigt uns einen Verschlag, der eigentlich als Toilette dient.
Nach diesem Gespräch fragen wir Sister Fa, was sie bei den Aussagen und Schilderungen der Beschneiderinnen empfunden hat. Sie wird ja bei jedem Gespräch auch wieder an ihre eigene Geschichte und ihren eigenen Schmerz erinnert. Sie erinnert sich noch genau daran, wie eine Frau vor ungefähr 30 Jahren ihre Beine auseinander gedrückt hat und eine weitere Frau ihr mit einem spitzen Gegenstand entsetzliche Schmerzen zugefügt hat, die sie nicht verstanden hat. Sie erinnert sich auch noch an das Gesicht ihrer Mutter, die ihr sagte, dass sie nicht weinen solle, denn das wäre nicht gut für die Familie. „Der Schmerz war unbeschreiblich und blieb viele Tage bestehen“, sagt sie.
Aufklärung gegen Schweigen
Viele Jahre später bekam die Musikerin mit, dass in ihrem eigenen Heimatort zwei Mädchen an den Folgen der Beschneidung starben. Da beschloss sie, nicht mehr zu schweigen. „Wenn wir unsere Kinder schützen wollen, müssen wir laut sein!“, erklärt sie mir. Sie kommt zwei- bis dreimal im Jahr in den Senegal und besucht auch benachbarte Länder, um über Menschenrechte und Beschneidung zu sprechen. Besonders die jungen Leute will sie erreichen, und dabei kommt ihr entgegen, dass Hiphop-Musik bei vielen jungen Senegalesen gut ankommt. Ihre Songs werden im Radio gespielt und die Zusammenarbeit mit World Vision öffnet ihr Türen, um lokale Autoritäten und auch Jugendgruppen für die Aufklärungsarbeit zu aktivieren.
In der Gemeinde Coumbacara, ca. 70 km entfernt von Kolda, lernen wir einen Teil der vom Projekt geförderten Maßnahmen kennen. Wir begleiten Mädchen im Alter von 16 bis 18 Jahren, die jeweils in Dreier-Teams von Haus zu Haus gehen. Von World Vision geschult, sprechen diese Jugendlichen sehr selbstbewusst mit Familien aus verschiedenen Dörfern über die Mädchenbeschneidung. Sie fragen die jeweiligen Gesprächspartner auch nach ihren Erfahrungen. Dabei erfassen sie mit Fragebögen, wie alt die jeweiligen Mädchen in der Familie sind, ob sie beschnitten wurden und welche Komplikationen vorliegen. Wir erleben erstaunt mit, wie offen die meisten Menschen über dieses doch sehr intime Thema mit Fremden sprechen. Bei Vielen ist eine Einsicht und Offenheit für Veränderung zu spüren.
Jugendliche Botschafter der Veränderung
Ein weiterer Schwerpunkt unserer Kinderschutzarbeit im Senegal befasst sich mit dem Problem von Kinderehen. Leider kommt es noch häufig vor, dass Eltern ihre Töchter schon vor dem gesetzlich erlaubten Mindestalter von 16 Jahren verheiraten, damit sie versorgt sind. Das Resultat ist, dass sie viel zu früh die Schule verlassen und selbst Kinder bekommen, obwohl sie noch minderjährig sind. World Vision setzt sich bei der Regierung dafür ein, das Mindestalter auf 18 Jahre anzuheben. Parallel dazu müssen aber die Eltern davon überzeugt werden, ihre Kinder zu fördern und zu schützen. Deshalb sprechen die Mitarbeiter des Projekts und die Mädchenteams auch dieses Thema immer wieder an und schulen Kinderschutz-Komitees.
Nachdem die Hausbesuche an diesem Tag beendet sind, kommen alle Menschen aus dem Dorf zu einer gemeinsamen Versammlung. Die World Vision-Mitarbeiter und die Mädchenteams besprechen mit den Versammelten die Ergebnisse der Fragebögen. Es gibt Positives zu berichten: Von 13 Haushalten, die heute von den Mädchenteams besucht wurden, werden in 12 Familien keine Mädchen mehr beschnitten. Nur eine Familie wollte an der Tradition festhalten, war aber zu einem langen Gespräch bereit.
Unser Kinderschutz-Beauftragter Boubacar Fofana ist wie Sister Fa davon überzeugt, dass sich nachhaltige Verhaltensänderungen am besten erzielen lassen, wenn aus der Mitte der Bevölkerung heraus dafür geworben wird. Selbstbewusste junge Frauen mit Fähigkeiten zur Kommunikation seien die wirkungsvollsten Botschafter bei diesem Thema. Er richtet aber auch an die Älteren einen Appell, der nicht die Traditionen verurteilt, sondern die Potentiale des Umdenkens betont.
Wir haben im Senegal wichtige Ressourcen! Nicht Gold, nicht Öl, sondern unsere Kinder!
Er ergänzt: „Wenn wir diese ausbilden und stärken, erhalten wir uns unsere wichtigsten Ressourcen, denn die Kinder sind unsere Zukunft!“
Damit das Gesagte nicht nur die Köpfe, sondern auch das Herz erreicht, tragen die Mädchen ihr Anliegen anschließend noch in einem Theaterstück vor, was auch gut zur afrikanischen Tradition des Geschichten-Erzählens passt.