Unsere Mitarbeiterin Nejra Baltes nimmt uns zum Weltflüchtlingstag mit an die Südgrenze Europas - in ein Flüchtlingsaufnahme-Zentrum in Bosnien und Herzegowina. Nahe der Hauptstadt Sarajevo sind hier vor allem Familien und auch unbegleitete Jugendliche untergebracht. Die meisten von ihnen kommen aus Afghanistan, Syrien, Pakistan, dem Iran oder dem Irak. Viele waren bereits jahrelang unterwegs, als sie den Westbalkan erreichten, und sie haben hohe Hürden zu überwinden, wenn sie weiter in die Europäische Union reisen wollen.
„Uns ist wichtig, dass die Kinder mit all den Risiken und Belastungen dieser unsicheren Umstände nicht allein gelassen werden, und deshalb haben wir gemeinsam mit Unicef ein umfassendes Konzept für ihren Schutz und ihre Förderung entwickelt“, erklärt Nejra.
Klänge von Gitarren und Tamburins breiten sich an dem sonnigen Tag aus im Aufnahmezentrum Ušivak. Vor bunt bemalten Containern, die eine geschützte Zone für Kinder umgrenzen, sind Jungen und Mädchen verschiedenen Alters versammelt. Sie konzentrieren sich auf die Instrumente, die sie in der Hand halten, und versuchen, den Rhythmus, den sie hören, zu wiederholen. Unter ihnen ist Farah, eine 13-Jährige mit ansteckendem Lachen. „Farah ist immer begeistert dabei, wenn in einer Gruppe Musik gemacht wird“, erzählt Muamer Ibrišević, der als Koordinator der Aktivitäten im Kinderschutzzentrum ein Auge auf alle Kinder und ihre Bedürfnisse hat.
Struktur und Anregung im Alltag
Der Musikunterricht ist eines von vielen Angeboten zur kreativen Beschäftigung, die den Kindern und Teenagern ein Stück Struktur im eintönigen Alltag und positive Anregung geben soll. Ein engagiertes und erfahrenes Mitarbeiter-Team des Projekts macht jeden Tag Spiel-, Sport- und Lernangebote, die auch soziale Kontakte unter den Kindern fördern und ihnen Selbstvertrauen geben.
Entwurzelte Kinder und ihre Familien sollten bei der Bearbeitung ihrer Asylanträge priorisiert werden, da sie zu den schutzbedürftigen Gruppen gehören und sie schnell Lösungen brauchen.
Farah wohnt seit zwei Monaten im Aufnahmezentrum und spricht bereits ein paar Brocken Bosnisch. Sie entspannt nicht nur bei Musik, sondern nimmt auch an anderen Unterrichtseinheiten und Workshops teil. Mit Hilfe von Tablets kann man im Kinderschutzzentrum zum Beispiel einen Sprachkurs machen. Da Kinder auf der Flucht oft ganze Schuljahre verpassen, hilft das informelle Bildungsangebot ihnen vor allem dabei, wieder eine Lern-Routine zu entwickeln und mit ihren Altersgenossen bei praktischen Kenntnissen wie Lesen, Schreiben und Rechnen mitzuhalten.
Farahs Augen leuchten, wenn sie über Bildung spricht. „Um im Leben erfolgreich zu sein, muss man Wissen haben“, sagt Farah, die ursprünglich aus Pakistan stammt, wo sie die Grundschule besuchte. Eines Tages änderte sich ihre ganze Welt und sie fand sich mit ihrer Mutter und zwei älteren Geschwistern auf der Straße wieder. Die vier reisten zu Fuß und schliefen unter freiem Himmel. „Wir hatten sehr wenig zu essen“, erzählt Farah. Sie erinnert sich, dass sie Angst vor der Polizei hatte und vor ihr weglief, aber sie erwähnt auch, dass einige Polizisten sie fair und höflich behandelten.
Monate auf der Straße, ohne Zuhause und oft unter Stress, das Nötigste zum Leben zu haben, hielten Farah nicht davon ab, von einer Zukunft zu träumen, in der sie einen respektablen Beruf hat und Sinnvolles für die Gemeinschaft tun kann. „Ich möchte eine ehrliche und vertrauenswürdige Polizistin werden“, vertraut sie unserer Kollegin an.
Mit dem 11-jährigen Haqqani aus Afghanistan, der den Mathe-Unterricht am meisten mag, haben die Fachkräfte des Kinderschutzzentrums zunächst einmal eine schlimme Erfahrung während der zwei Jahre dauernden Flucht aufgearbeitet. Haqqani litt unter Angstzuständen, weil er unterwegs zusammen mit seinem Vater und seiner jüngeren Schwester von Kriminellen entführt worden war. Seine Mutter berichtete später, dass die Entführer 10.000 Euro für die sichere Rückkehr ihrer Familie verlangten. „So viel Geld hatte meine Mutter nicht bei sich, also rief sie die Polizei und die fand uns“, sagt Haqqani. Drei Tage lang war der Junge jedoch in der Hand seiner Entführer.
Die kinderfreundliche Betreuung in Ušivak, kombiniert mit psychologischer Unterstützung der Familie, halfen Haqqani sein Trauma zu überwinden. Er kann jetzt ruhig über seine vergangene Erfahrung sprechen. Im Augenblick ist die Welt gut. „Ich habe hier Freunde und wir machen jeden Tag etwas anderes“, sagt er.
Mehr als 800 unbegleitete Kinder und Jugendliche bereits in diesem Jahr
Seit 2018 kommen vermehrt geflüchtete Menschen und Migranten in Bosnien und Herzegowina an, da früher bevorzugte Routen nach Europa 2017 geschlossen wurden. Asylsuchende haben zwar grundsätzlich ähnliche Rechte wie in Deutschland, aber die Behörden sind auf Partner angewiesen, um den Bedarf an humanitärer Hilfe und grundlegenden Dienstleistungen zu decken. Längst nicht alle ankommenden Kinder haben das Glück, gut untergebracht zu sein und eine Schule besuchen zu können.
World Vision arbeitet seit 25 Jahren für die Ärmsten im Land. Die 2018 gestarteten Hilfsprojekte für geflüchtete Kinder und Familien werden unter anderem von der Europäischen Union und von Unicef unterstützt. Das beschriebene Projekt wird in Salakovac und Ušivak durchgeführt. In geschützten Räumen können Kinder an Integrations-, Bildungs- und Freizeitaktivitäten teilnehmen. Darüber hinaus bietet das Projekt Beratung bei Ernährungs-und Gesundheitsproblemen sowie gezielte Unterstützung für Mütter mit Kleinkindern und für werdende Mütter an.
Um unbegleitete Minderjährige, die besonders dringend Schutz und Hilfe benötigen, kümmert sich ein Betreuerteam rund um die Uhr. Allein in diesem Jahr unterstützte das Team schon mehr als 800 Kinder und Jugendliche, die ohne ihre Familien unterwegs sind. Viele von ihnen waren Gewalt oder Ausbeutung ausgesetzt, manche sind durch ihre Flucht der Rekrutierung durch Milizen entkommen.
Geflüchtete Kinder weltweit brauchen politische Unterstützung für ihre Rechte
Weltweit sind leider Millionen Kinder wie Haqqani und Farah auf der Flucht, und an vielen Orten versucht World Vision ihr Leben sicherer und leichter zu machen. Aber die Rahmenbedingungen sind oft sehr schwierig - immer wieder kommt es auch zu gravierenden Verstößen gegen Rechte der Kinder. Bosnien grenzt direkt an die Europäische Union und leider gibt es in der Region gut belegte Vorwürfe, dass flüchtende Kinder und ihre Eltern aktiv und damit unrechtmäßig zurückgedrängt werden, um sie an der Einreise zu hindern und so einen Asylantrag unmöglich zu machen. Gemeinsam mit den Vereinten Nationen fordern wir darum in Berlin und Brüssel, dass Kinder-, Europa- und Menschenrecht eingehalten wird.
„Entwurzelte Kinder und ihre Familien sollten bei der Bearbeitung ihrer Asylanträge priorisiert werden, da sie zu den schutzbedürftigen Gruppen gehören und sie schnell Lösungen brauchen“, fordert Christoph Waffenschmidt, Vorstandsvorsitzender von World Vision Deutschland. „Die örtlichen Behörden in Bosnien sollten für diese Aufgabe weiter gestärkt und für Kinderrechte sensibilisiert werden. Es braucht außerdem dringend eine Ausweitung legaler Zugangswege. Resettlement-Programme und Familienzusammenführung, besonders in die EU, sollten daher verstärkt werden. Die strahlenden Gesichter von Kindern wie Farah und Haqqani, die nach viel Leid wieder lachen und Hoffnung auf eine Zukunft haben können, beweisen, dass sich diese Hilfe immer lohnt.“
Unser Positionspapier mit Forderungen zur Sicherung von Kinderrechten in der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems finden Sie hier.