Unsere Mitarbeiterin Annika Schlingheider war im Februar/März ehrenamtlich im Nachfolgelager des Flüchtlingscamps Moria auf Lesbos tätig. Hier berichtet sie über die Situation der Kinder.
„Come, follow me!“, ruft mir Omid* zu. Der dreizehnjährige Afghane lebt im Nachfolgelager des Camps Moria auf Lesbos. Er zeigt mir gerade den Weg zum Zelt einer befreundeten Familie. Während ich durch das Zelt-Camp Mavrovouni (auch „Kara Tepe“ genannt) laufe, habe ich oft das Gefühl, auf einer lauten, matschigen Baustelle gelandet zu sein. Überall fahren riesige LKW. Sie karren zum Beispiel große Wasserkissen ins Camp, denn es gibt immer noch keinen Anschluss an eine Wasserleitung. Dazu dröhnen die wenigen Generatoren – auch an das Stromnetz sind die hier gestrandeten Menschen immer noch nicht angeschlossen, mitten im nasskalten März.
Dazwischen springen unendlich viele Kinder durch den Matsch. Rund 7.000 Menschen leben aktuell hier, mehr als 2.000 von ihnen sind Kinder. Ich schaue mich um. Heute Morgen sind viele Kinder und Erwachsene an den offenen Wasserstellen zwischen den schiefen und schmutzigen Dixi-Toiletten. „Hello, good morning“, ruft mir ein kleiner Junge in abgewetzten Klamotten zu und eilt hastig in seinen offenen Crocs-Schuhen, in denen nackte Füßchen stecken, weiter.
*Name zum Schutz des Kindes geändert
Während ich Omid folge und die Kinder zwischen den heruntergekommenen Zelten im kalten Schlamm herumlaufen sehe, fühle ich mich, als wäre ich in einem Katastrophengebiet. Und bin doch auf einer griechischen Ferieninsel. Mitten in Europa, im Jahr 2021.
Der Gesundheitszustand vieler Kinder hier ist schlecht
Etliche haben Husten, Schnupfen, Hautkrankheiten. Sie leben mit ihren Familien entweder in einem der 15 Quadratemeter großen Zelte, in denen standardmäßig zwei Familien (meist 8-10 Personen) untergebracht werden oder mit acht Personen in einem Abschnitt einer „Zelthalle“, in der 150 Personen zusammengepfercht leben. Durch diese dünnen Behausungen pfeift der kalte Wind, der seit ich hier bin nicht selten starken Regen und sogar Hagel mitgebracht hat.
Es ist schwer zu ertragen neben einem vor Kälte zitternde Kind zu sitzen und zu wissen, dass es hier im Camp nicht einmal einen befestigten Ort gibt, wo man sich aufwärmen oder trocknen könnte. Wer einmal in die Augen dieser Kinder geblickt hat, vergisst das nicht. Das Schlimmste sind die unsichtbaren, die psychischen Erkrankungen und Traumata, wie unter anderem Ärzte ohne Grenzen berichten. Viele Kinder in diesem Camp sind verzweifelt, einige äußern laut Berichten sogar Suizid-Gedanken.
Wer einmal in die Augen dieser Kinder geblickt hat, vergisst das nicht.
Wie bereits im Camp Moria, das im September 2020 durch Brände zerstört wurde, versuchen verschiedene NGOs und vor allem die Geflüchteten selbst, zumindest vereinzelt für Kinder Unterricht anzubieten. Eine dieser von Geflüchteten organisierte Bildungsinitiativen ist die „Wave of Hope for the Future“ Schule.
Beim Besuch mit dem World Vision-Vorstandsvorsitzenden Christoph Waffenschmidt im Februar 2020 lernten wir die afghanischen Künstler Lida und Shukran Shirzad kennen, die für die Wave of Hope Schule Malunterricht und andere Aktivitäten anbieten. Heute, ein Jahr später, leben die beiden immer noch im Camp auf Lesbos und warten, wie so viele andere, weiterhin auf ihre Asylentscheidung. Zu ihnen bin ich mit Omid unterwegs. Die Freude ist groß, als wir das mit einem Nikolaus verzierte Zelt erreichen.
„Die Kinder brauchen Momente, in denen sie einfach nur entspannen, lachen und Kind sein können“, sagt Lida Shirzad. „Das gilt für Kinder hier genauso wie für Kinder überall auf der Welt. Mein Mann und ich versuchen ihnen mit unserer Kunst ein bisschen Freude und eine Möglichkeit, ihre Talente zu nutzen, zu geben. Leider ist das innerhalb dieses Camps fast unmöglich.“
Ich bewundere den Mut und die Stärke der Menschen wie Lida und Shukran hier im Camp. Gleichzeitig bin ich erschüttert über die Zustände, die hier seit nunmehr fünf Jahren herrschen. Die Erfahrung der letzten Jahre und die hochkomplexe politische Situation lassen trotz aller Bemühungen wenig Hoffnung zu, dass sich die Umstände vor Ort in absehbarer Zeit verbessern.
„Viele Städte, Gemeinden und Initiativen setzen sich in Deutschland seit Jahren für weitere Aufnahmen ein. Es entspricht unserer demokratischen und christlichen Verantwortung, nicht wegzuschauen, sondern mutig zu handeln. Lesbos liegt zwar am Rande Europas – aber was hier geschieht, trifft Europa mitten ins Herz“, sagt World Vision Vorstandsvorsitzender Christoph Waffenschmidt.
Ich frage Omid, was er sich für die Zukunft wünscht. Er sagt: „Ich hoffe, wir können so schnell wie möglich raus aus diesem Camp. Ich hoffe, Europa findet schnell eine Lösung.“
Als christliches Kinderhilfswerk setzt sich World Vision für Kinderrechte weltweit ein. Auf Lesbos und an vielen anderen Orten an den europäischen Außengrenzen werden grundlegende Kinderschutzstandards nicht eingehalten. Neben unserer Arbeit in vielen Herkunftsländern, setzen wir uns deshalb politisch dafür ein, dass besonders schutzbedürftige Menschen, insbesondere Kinder und Familien, nach Deutschland und in andere EU-Mitgliedstaaten gebracht werden, wo ihre Grundrechte gewahrt werden.
Unsere aktuelle Pressemitteilung finden Sie hier.
Unser Positionspapier mit Forderungen zur Sicherung von Kinderrechten in der Reform des Gemeinsamen Europäischen Asylsystems finden Sie hier.