Schwerpunkt-Thema der 5. World Vision-Studie:
Wie bewältigen Kinder und Jugendliche aus Deutschland und Ghana die Pandemie?
Als internationale Kinderhilfsorganisation haben wir unsere 5. World Vision Kinderstudie erstmals international vergleichend angelegt. In Kooperation mit unserem Partnerland Ghana wurde in der Studie untersucht, wie Kinder in beiden Ländern das Pandemiegeschehen wahrnehmen und mit ihm zurechtkommen.
Teile der Studie:
- Im Sommer und Herbst 2020 wurden für den qualitativen Teil der Studie detaillierte Interviews mit Kindern zwischen 6 und 16 Jahren geführt aus unterschiedlichen sozialen Milieus geführt.
- Die qualitativen Interviews dienten der Vorbereitung des quantitativen Teils der Studie: In einer repräsentativen Umfrage unter je 2.000 Kindern in Ghana und Deutschland im Herbst und Winter 2021 erhoben wir in standardisierten Interview Daten.
Sowohl in Deutschland als auch in Ghana gab es vergleichsweise lange und restriktive Maßnahmen, die in den Lebensbereichen von Kindern und Jugendlichen eingriffen. Die Ergebnisse unsere Studie offenbaren, wie stark das Pandemieerleben und die Risiken für das Kindeswohl in beiden Ländern von den finanziellen, kulturellen und sozialen Ressourcen der Familien der Kinder abhängen.
Es gibt einige Gemeinsamkeiten bei der Pandemiebewältigung der Länder Deutschland und Ghana.
- Kinder und Jugendliche haben in beiden Ländern durch ihre Mitwirkung dazu beigetragen, landesweite Lockdowns und drastische Kita- und Schulschließungen mit ihren Familien durchzustehen.
- Sie haben Kontakt- und Hygieneregeln eingehalten und bestmöglich mit den ihnen zur Verfügung stehenden, oft unzureichenden Materialien, für die Schule gelernt.
- Es wird noch viel zu wenig gewürdigt, dass sie in ihren Familien auch Haus- und Kinderbetreuungsarbeit übernommen haben.
Aber es gibt auch Unterschiede zwischen Ghana und Deutschland:
Während in Ghana die Hausarbeit von Mädchen und Jungen vergleichbar geleistet wurde, zeigen unsere Daten für Deutschland eine deutlich stärkere Einbindung von Mädchen während der Pandemie.
Das Familienleben während der Pandemie
Während in Deutschland neun von zehn Kindern (90 %) in einem Haushalt mit maximal drei Personen leben, sind es in Ghana nur knapp zwei Drittel (64 %) – die meisten haben mehr Geschwister und jedes achte Kind (13 %) lebt in einem Haushalt, in dem es mindestens fünf Personen gibt. Zwei von fünf Kindern (21 %) leben in Deutschland in einem Haushalt mit einem alleinerziehenden Elternteil, in Ghana hingegen sind es 38 Prozent.
In Ghana leben bei 12 Prozent der Befragten und in Deutschland bei über einem Viertel (26 %) der Kinder eine Risikoperson im Haushalt, darunter vor allem Menschen höheren Alters oder mit Vorerkrankungen. Das Zusammenleben mit einer Risikoperson hatte in Deutschland Auswirkungen auf das psychische Wohlergehen der Kinder: Über die Hälfte der Kinder (54 %) mit einer Risikoperson im Haushalt gab an, sich durch die Pandemie ängstlich und sorgenvoll zu fühlen – im Gegensatz dazu nur 46 Prozent der Kinder, die in Haushalten ohne Risikoperson leben. Generell ängstlich und sorgenvoll in Anbetracht der Pandemie fühlten sich 78 Prozent aller befragten Kinder in Ghana (48 % in Deutschland), was für eine insgesamt sehr hohe Belastung der Kinder spricht, die vielleicht auch mit der Angst vor Einkommenseinbußen der Familien in Zusammenhang steht.
Die Angst vor der Übertragung des Virus an Familienmitglieder und die strengen Corona-Regeln in Bezug auf Freizeitaktivitäten führte dazu, dass sich Kinder in ihrer Freizeit stark einschränkten und die Freizeit hauptsächlich zu Hause und im engen Wohnumfeld verbrachten. Manche Kinder gaben an, jetzt mehr draußen zu spielen, aber die Nutzung von Unterhaltungselektronik (Fernsehen, Streaming, Handy, Computer bzw. Spielekonsole) haben sowohl in Ghana als in Deutschland deutlich zugenommen. Gut die Hälfte der Kinder in Ghana (55 %) und 42 Prozent der Kinder in Deutschland hat sich während des Lockdowns weniger bewegt als vorher. Je älter die Kinder sind, desto weniger Aktivitäten gab es während des Lockdowns.
Meine Geschwister kommen immer in mein Zimmer, wenn ich online lernen will. Also muss ich sie manchmal einfach rausschmeißen. Wenn sie draußen spielen, kann ich endlich in Ruhe lernen.
In der qualitativen Erhebung in beiden Ländern berichten manche Kinder zwar positiv darüber, mehr Zeit mit ihren Eltern verbringen zu können. In anderen Familien dagegen haben sich in der Pandemie schon vorher bestehende Stressfaktoren wie z. B. finanzielle Not zugespitzt und es sind neue Belastungen entstanden.
Während Kinder in Deutschland häufig Konflikte zwischen der Berufstätigkeit der Eltern und die Miteinbeziehung der Eltern in das Homeschooling als Stressfaktor nannten, zeigen sich in Ghana eher Auswirkungen finanzieller Probleme auf das Familienleben. Vier von fünf (82 %) Eltern in Ghana geben an, dass ihre Familien wegen der Pandemie in finanziellen Schwierigkeiten sind und 64 Prozent der Kinder aus diesen Familien berichteten über finanzielle Schwierigkeiten. In Deutschland gaben nur ca. 35 % der befragten Elternteile an, von Einkommenseinbußen durch Corona betroffen zu sein.
Neben finanziellen Problemen, Schwierigkeiten mit dem Homeschooling und Langeweile fehlt es in vielen Haushalten aufgrund des knappen Wohnraums auch an Rückzugsmöglichkeiten und Privatsphäre. In Deutschland berichtet jedes vierte Kind von Freundinnen oder Freunden, die in ihrer Familie angeschrien wurden und 6 Prozent berichten, dass sie Kinder kennen, die körperliche Gewalt erfahren müssen.

Die Einbindung von Kindern in die Erwerbs- und Carearbeit
Insbesondere im deutschen Diskurs zur Corona-Pandemie wurden Kinder zumeist als Übertragende des Virus oder als passiv Erleidende der Corona-Eindämmungsmaßnahmen gesehen. Dies blendet aus, dass sie selbst aktiv bei der Bewältigung der Pandemie mitwirken.
Neben der Durchführung des Homeschoolings, in dem viele Kinder auf sich alleine gestellt waren, und der Umsetzung von Kontakt- und Hygieneregeln erforderte auch das Familienleben ihren Einsatz. Zwar berichten auch in Ghana nur sehr wenige Kinder davon, einer Erwerbsarbeit nachzugehen, um das Familieneinkommen zu steigern (4 % in Ghana; 5 % in Deutschland). Aber in Deutschland sagten 47 Prozent und in Ghana 77 Prozent aller Kinder, dass sie seit der Pandemie mehr im Haushalt helfen. 20 Prozent der Kinder in Deutschland passen häufiger auf als vor der Pandemie auf Geschwister auf (60 % in Ghana). Passend zu den Ergebnissen der Kinder-Interviews in Deutschland aus dem Jahr 2020 geben auch in der großen Umfrage aus dem Jahr 2021 relativ viele Kinder an, nun zum ersten Mal oder mehr als vorher in die Care-Arbeit eingebunden zu sein.
Diese Entwicklung sollte weder als negativ noch positiv gedeutet werden, sondern zur Anerkennung führen, dass auch Kinder soziale Verantwortung in ihren Familien tragen, das Familienleben mitgestalten und eigene Vereinbarkeitsproblematiken aushandeln müssen.
Ich habe das Aufhängen der Wäsche übernommen. Meine Mutter und ich machen außerdem mein Zimmer, Flur und Bad sauber. Mein Stiefvater macht Wohnzimmer und die Küche.
Es lässt sich ein Zusammenhang herstellen zwischen vermehrter Hausarbeit und diesen Faktoren:
- großer Haushalt (v.a. in Ghana)
- höheres (Kindheits-)Alter
- niedriger sozioökonomischem Status (v.a. in Ghana)
- weibliches Geschlecht (nur in Deutschland)
Während in Deutschland Mädchen seit der Pandemie stärker in den Haushalt eingebunden werden als Jungen, lassen sich Geschlechtsunterschiede in Ghana nicht erkennen. Dies ist ein bemerkenswertes Ergebnis, das auch durch unsere detaillierten Kinder-Interviews gestützt wird: Sowohl Mädchen als auch Jungen aus Ghana berichten von unterschiedlichen Care-Leistungen während der Pandemie, wie z. B. Putzen, Kochen, Einkaufen, auf Geschwister aufpassen und mit ihnen lernen. Möglicherweise decken die Daten der World Vision Studie auf, dass in familiären Notlagen (wie sie durch die Covid-19 Pandemie entstanden) in Ghana Tätigkeiten an alle verfügbaren und fähigen Personen verteilt werden, in Deutschland aber eher an Mädchen. Väter, wenn im Haushalt lebend, scheinen von Mehrarbeit nicht betroffen zu sein. Das verfestigt die in patriarchale Gesellschaften charakteristische „Unsichtbarkeit“ von Care-Arbeit.
Die wichtigsten Ergebnisse der Studie im Überblick
Im dritten Jahr der Pandemie bestätigen unsere für Deutschland und Ghana repräsentativen Daten zum Pandemieerleben von Kindern zwischen 6 und 16 Jahren die vielfach formulierte Annahme, dass schon vorher bestehende soziale Ungleichheiten verschärft wurden.
Kinder aus Familien mit geringen sozioökonomischen Ressourcen berichteten in beiden Ländern bei fast jedem abgefragten Aspekt des Pandemieerlebens und der Pandemiebewältigung über einen höheren Leidensdruck als Kinder, die aus privilegierteren Familien stammen.

Bildungsgerechtigkeit
Wir finden: Die Schließung von Schulen und die Umstellung auf Homeschooling sowohl in Ghana als auch in Deutschland ist rückblickend als politisches Versagen zu bezeichnen.
Besonders benachteiligt wurden dadurch Kinder:
- die aus Familien mit geringen sozioökonomischen Ressourcen kommen
- die Eltern mit einem geringem formalisierten Bildungsniveau haben
- die Eltern haben, deren Muttersprache nicht Deutsch ist.
Diese Faktoren treten oft gemeinsam auf. Als der Staat mit dem Homeschooling seinen Bildungsauftrag temporär an die Eltern übertrug, kamen herkunftsbezogene Faktoren der Bildungsungleichheit besonders zum Tragen, weil die institutionellen Arrangements, die einen gleichen Zugang zu Bildung für alle Kinder gewährleisten sollen, ausgesetzt wurden. Das wird durch das stark trennende Bildungssystem in Deutschland in speziellem Maße verschärft.

Generationengerechtigkeit
Kinder wurden während der Corona-Pandemie besonders stark durch die Schutzmaßnahmen benachteiligt – sowohl in Ghana als auch in Deutschland. Durch die Schulschließungen und andere Maßnahmen wurde ihr Lebensbereich mehr als der von Erwachsenen beschnitten, da das gemeinsame Lernen und das Zusammensein mit Gleichaltrigen für sie besonders wichtig ist. Durch das Homeschooling, durch die oft angespannte Situation in den Familien und durch die vermehrte Hausarbeit wurden sie besonders stark beansprucht und es wurde viel Verständnis und Eigeninitiative von ihnen verlangt.
Über die speziellen Belastungen der Kinder wurde typischerweise erst recht spät nachgedacht, nachdem Kinder zu Beginn der Pandemie sogar als besonders gefährliche Infektionsträger dargestellt wurden und man vor allem die ältere Generation vor ihnen schützen wollte.
Im Sinne der Generationengerechtigkeit ist es dringend erforderlich, eine weiterführende Diskussion über die Rechte von Kindern an politischer Partizipation zu führen.

Geschlechtergerechtigkeit
Überall auf der Welt haben die Eindämmungsmaßnahmen für die Covid-19-Pandemie dazu geführt, dass vor allem Frauen und Mütter die anfallende Mehrarbeit im Haushalt und in der Betreuung von Kindern und anderen Angehörigen übernommen haben. In Deutschland gab es besonders lange Kita- und Schulschließungen, was nur möglich war, weil in Deutschland Mütter überwiegend in Teilzeit arbeiten. In Deutschland konnte man außerdem feststellen, dass vor allem Töchtern mehr Aufgaben im Haushalt und in der Care-Arbeit wie z. B. Kinderbetreuung übertragen wurden als den Söhnen.
Das verfestigt unfaire patriarchale Rollenmuster, die langfristig zu Problemen wie dem „gender pay gap“ führen. Ghana ist Deutschland in der Entwicklung voraus, weil hier schon seit langem diskutiert wird, wann der Einsatz von Kindern in der Landwirtschaft oder dem Haushalt zu Vereinbarkeitsproblemen mit ihrem Schulbesuch führt und wie dies verhindert werden kann. Frauen und Töchter, die Hausarbeit machen und Angehörige betreuen, können nicht zeitgleich in einem Job arbeiten oder zur Schule gehen.
Care-Arbeit ist Arbeit und muss sichtbar gemacht werden. Und sie muss gerechter verteilt werden.